Dienstag, 30. Mai 2017

Alles geht? Zum Welt MS Tag 2017



"Alles geht, nur eben anders", das ist das Motto der DMSG zum Welt MS Tag.

Mut soll es machen, genauso wie die vielen Beispiele, die sich derzeit wieder ihren Weg in die Öffentlichkeit bahnen. Da wird Marathon gelaufen, Radrennen gefahren und vieles mehr.

Ich habe mir lange Gedanken gemacht, um dieses "alles geht" und mich gefragt:

Geht wirklich alles? Und ist nur eben anders der Weg wieder alles das zu ermöglichen, was ich verloren habe?

Zugegeben, ich beginne diesen Tag ein bisschen düster ......


Aber zunächst löste das Motto genau das aus bei mir: düstere Gedanken, die mich daran erinnerten, was ich mit der MS alles eben nicht mehr machen kann. Auch nicht anders. Weil es auch nicht anders geht. Anderen geht es übrigens gleich. Bei ihnen geht eben nicht mehr alles und viele Dinge davon betrauern wir ganz bewusst. Weil sie von der MS aus unseren Leben ersatzlos gestrichen wurden.

In meinem Fall reden über Skifahren, Inline Skaten, lange abfeiern am Abend (ja, geht schon, aber ehrlich gesagt, ist die Rechnung dafür echt hoch und nur sehr übel auszuhalten), berufliche Wege und die anstrengende Neuorientierung, über die Frage, ob man die Ausbildung fertig machen kann und ich, das Sommerkind, laufe bei Hitze echt am Anschlag, und noch so einige Dinge.Sie gehen nicht mehr. Selbst nicht mit Schleichweg.



Und da frage ich mich schon wo da dieses Motto ist. Dieses "Alles geht" Ding, das mir suggerieren soll, dass alles geht. Was es ja nicht tut.

Ehrlich gesagt bin ich es verdammt leid,  mir immer wieder Schleichwege oder andere Wege zu suchen. Ich kann das, ich bin richtig gut darin, schon von meinem Beruf her, aber hey, ich will auch mal ohne andere Wege auskommen. Ab und an hätte ich es gerne geradlinig trullafrei und einfach. Bitte. Ginge das? Nö. Das Fräulein Trulla schüttelt den Kopf und schaut indigniert.

Klar formuliert, man verliert mit MS und es geht eben nicht mehr alles. Christine von "Deine Christine" hat es wunderbar auf den Punkt gebracht. Sie sagt der DMSG klar: Setzen 6. 

Wer das Gegenteil sagt, der erzählt nicht die ganze Wahrheit. Sorry DMSG, ich will Euch und Euren Ideen nicht schon wieder die rote Karte zeigen müssen, aber es ist so.
Ich halte es für wenig sinnvoll anderen, die gerade ihre Diagnose erhalten haben, ein zu perfektes Bild vermitteln zu wollen  und es ist genauso ungünstig, die oft knallharte dreckige und lausige Wahrheit gleich zum Start zu offenbaren.

Weil eben MS vielfältig und bei jedem anders ist. Und wir, die wir drüber reden auch eine Verantwortung dafür haben, eine gewisse Balance zu schaffen, niemand zu hoch steigen zu lassen, aber auch nicht total zu entmutigen. Und das passiert. Nicht. In diesem Fall. Leider.

Dennoch: Es gibt durchaus neue Dinge, die ein guter Ersatz sind und den Verlust ausgleichen können, nicht perfekt und nicht super, aber ein wenig, was hilft.

Ich habe mir neues Wissen erschlossen, wie zum Beispiel den Titel "EUPATI Fellow", den ich mir in einem 14 Monate dauernden Spezialkurs erarbeitet habe und da hat es echt viel Kraft und Schokolade gebraucht. :-) Ich habe gelernt, gelassen zu bleiben. Gut, in manchen Dingen übe ich das bis heute, aber es hilft mir, in schwierigen Situationen nicht gleich divenhaft abzukacken.



Was ich auch gelernt habe ist, dass ich eine sehr starke innere Resilienz habe, also sehr widerstandsfähig bin. Es gibt Menschen, die sahen mich oft fallen und auf dem Boden liegen. Sie sagen von mir, ich bin ein Stehaufmännchen. Ich habe gelernt, bewusster mit allem umzugehen, was mir so über den Weg läuft. Mit Menschen, Dingen, Erlebnissen. Oft zehre ich lange von nur einem Spaziergang, der so wundervoll war, von einer Radtour, die ich geschafft habe und von einem tollen Abend mit meinem Liebsten.

Es müssen nicht immer diese Superhelden sein, die mit dem Heldencape Marathon laufen oder Radrennen fahren. Manchmal sind es die kleinen Dinge, die leisen Ereignisse, die die Welt nie bewegen würden, für mich aber ab und an die Welt sind. Weil ich anders bin. Frau. Mensch. Viel mehr. Dann eine Frau, die mit MS lebt.

Am meisten aber freue ich mich über das:

Ich habe mich selbst gefunden, mich neu kennen gelernt. Einfach ist dann auch anders, zugegeben, aber sich selbst zu sich auf den Weg zu machen und sich selbst mit Hilfe eines guten Therapeuten von außen zu betrachten und zu erkennen, wer man wirklich ist, ist klasse. Man kann so neue Wege finden, wenngleich dies keine einfache Nummer ist. Sie kann verdammt schmerzhaft sein. Aber es lohnt, wenn man ein wenig hartnäckig dran bleibt.

Für mich war das damals ein wichtiger Schritt, um wieder Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten zu bekommen und mich als wertvoll zu empfinden.

Bei der emsp Spring Conference in Athen nahm ich auch an einem Workshop dazu teil. Florenta aus Rumänien erzählte ihre Geschichte, die mir ehrlich gesagt, die Tränen in die Augen getrieben hat.
Kurz: Zuerst aufstrebende junge Frau mit toller Ausbildung und dann der Absturz durch die MS, sie konnte nicht mehr sprechen und vieles mehr. Aber sie stand auf, krempelte mit einem guten Therapeuten ihr Leben um und ist seit März glücklich verheiratet.

 Sie ist MS Advocate, spricht öffentlich darüber, wie schlimm das Aufstehen nach den Schüben war und ist und wie wichtig es für jeden, der mit MS lebt, ist, einen Psychotherapeuten zu haben, der dabei hilft, den eigenen Weg zu finden. Mit MS.

Florenta ist für mich eines der Beispiele, die wirklich klasse sind. Weil sie zeigen, das eben vieles geht. Wenngleich nicht alles. Sie ist für mich ein Beispiel dafür, dass Leben mit MS lebenswert und gut sein kann. Den eigenen Weg muss man nur finden. Was wirklich keine Sache ist, die man nebenbei machen kann.

Gemeinsam mit Dr. Yolanda Higueras aus Madrid, die den Workshop geleitet hat, haben wir uns ausgetauscht und voneinander gelernt. Zum Beispiel auch, dass sich schlechte Laune verbreitet. Missmut und auch griesgrämiges Auftreten sorgen dafür, dass es uns mit MS schlechter geht. Nicht, dass wir das nicht wüssten, aber ab und an muss man erinnert werden. :-)
Dass wir auch in Sachen seelisches Wohlbefinden auf uns achten müssen, dass wir lernen, ein "Nein" gelassen und fröhlich auszusprechen, weil es manchmal ein guter Freund sein kann und uns vor Überforderung schützt und hilft, entspannt zu bleiben. Das hat beispielsweise für Diskussionsstoff gesorgt, denn kann man immer "Nein" sagen? Hm.

Und das hat das Motto für den heutigen Tag für mich in Frage gestellt.

Geht alles? Sicher nicht. Sonst würde ich morgen wieder auf Ski durch die Berge fahren oder so. Andere würden vielleicht ihre Ausbildung beenden können oder einfach loslaufen. Sie würden vielleicht wieder ohne Schwierigkeiten sprechen, hätten keine kognitiven Probleme mehr. Irgendwie so. Für mich geht es darum, das eine oder andere Vorhaben stückweise zu verwirklichen, ab und an zu versuchen, die eigenen Grenzen ein wenig auszudehnen und auch zu lernen, nicht immer alles perfekt machen zu wollen.

Daher mein persönliches Motto für heute:

Oft geht da noch was und Vieles ist eben anders.

In diesem Sinne: Was geht bei euch?



Bilder:
Pixabay.com
Birgit 

Text: Birgit Bauer by Manufaktur für Antworten UG 2017

6 Kommentare:

  1. Genau SO! Es geht vieles, aber anders!! - Aber ganz viele geht auch einfach nicht mehr!! Und ja....wenn die DMSG da nicht ganz schnell mal die Reißleine zieht und sich auf den Hosenboden setzt und lernt und übt und sich mit Patienten auseinander setzt...Und damit meine ich nicht nur die wenigen mit der Diagnose direkt nach dem ersten Schub und seitheriger Schubfreiheit und Bergsteigerambitionen - sondern zumindest mal den "Durchschnitt" - sonst steht die Statistik doch auch immer ganz vorne auf der Seite...Dann wird das ein miserables Jahrezeugnis! Das ist die zweite 6 in diesem Halbjahr...tststs.....Liebe Grüße! Alles Liebe!! Nicole

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  2. Liebe Birgit,

    vielen Dank für deine Sicht der Dinge und das Verlinken von meinem Beitrag.

    Einen schönen Tag wünscht, Deine Christine!

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  3. Na, gut dass ich diesen Beitrag nicht schon am Freitag gelesen habe. Am Freitag hab ich unendlich um das getrauert was ich alles durch die MS und auch weitere schwere chronische Erkrankungen verloren habe. Ich habe unendlich getrauert und war verzweifelt über das Schicksal was ich tragen muss. Freilich stehe ich wieder auf. Aber solche Aussagen zeigen mir bloß daß ich entweder "zu blöde war" um den guten Stand nach dem ersten Schub zu erhalten oder, daß mir das Schicksal auch noch andere große Stolpersteine (u.a. Kopftumor) in den Weg gelegt hat. Da sind solche Aussagen (und auch solche "löse den Tumor mit Licht und Liebe auf") einfach nur zum Würgen.

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    1. Liebe Elisabeth, vielen Dank für Deinen Kommentar. Das mit dem Trauern kenne ich. Und nein, wir sind alle nicht zu blöd. Und ich hoffe sehr, dass du dich wieder besser fühlst. Alles Liebe Birgit

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  4. Tränen beginnen zu fließen, wenn ich diesen Blog lese... ja, es gibt auch mich wi(e)der und löst Traurigkeit und Wut aus. Weiter geht´s tagtäglich. Tränen die ein Weltmeer füllen-könnten hochkommen-und dann: STOP. Nein, ich lass mich nicht unterkriegen!

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  5. Liebe Birgit,

    danke, dass Du mir so aus der Seele schreibst. ich habe mich madig geärgert über das Leitmotto dieses Jahr. Von der unsäglichen Grammatik (aber eben nur - wtf?) abgesehen konnte ich mich null identifizieren und sehe die problematik in der Vermittlung an sowohl frisch Diagnostizierte als auch an alte, schwerer betroffene Hasen. Mir hat es keinen Mut gemacht, aber Dein text, der hat mir Mut gemacht, wie viele andere Texte von Bloggern auch, die ihre MS nicht an den guten, erfolgreichen, marathon-trotz-MS-laufenden role models messen, sondern an den kleinen Schritten, die man gezwingen ist, zu gehen. Alles Liebe, Katja

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