Ups, Fräulein Trulla, ich hab deinen Geburtstag vergessen. Und nein, ich schäme mich nicht mal. Warum? Weil du schon lange nicht mehr das Zentrum meines Universums bist, und das ist auch gut so.
Früher, als du frisch bei mir eingezogen bist, hab ich dich am Anfang jeden Tag hofiert und über jede deiner Kapriolen gesprochen, als wären sie der Mittelpunkt der Welt. Aber weißt du was? Ich hab nach einiger Zeit gemerkt: Das Leben mit dir ist nicht mein ganzes Leben. Und da hab ich dich mal ordentlich zurechtgestutzt.
20 Jahre. Zwei Jahrzehnte, in denen du deine Show abgezogen hast. Du warst immer da, hast deine Fratzen gezogen und mich an meinen Schwachstellen gepackt, wenn ich nicht aufgepasst habe. Aber weißt du, was der größte Gamechanger war? Dass ich irgendwann kapiert habe: Ich bin nicht du, und du bist nicht ich.
Es gibt einen Unterschied zwischen mit MS leben und MS leben. Letzteres ist eine Sackgasse, ein Hamsterrad, in dem man sich selbst vergisst. Glaub mir, ich war drin, für eine Weile. Hab mich ganz am Anfang definiert über dich und mich von anderen über dich definieren lassen. Und ja, das hat sich angefühlt, als wäre ich wichtig – aber auf die falsche Art. Als „die mit der MS“, nicht als ich.
Was ich an dieser Stelle aber auch betonen will: Ich weiß, dass ich gut unterwegs bin. Trulla an sich ist relativ friedlich geblieben. Klar, sie hat mir hier und da ein paar unsichtbare Blessuren hinterlassen, mir Schübe verpasst, die keiner gebraucht hat, besonders ich nicht. Aber ich kann damit leben, ich komme klar und dafür bin ich dankbar. Es gibt Tage, an denen sie anstrengend ist, und Tage, an denen ich sie kaum spüre. Das ist ein Privileg, und ich weiß, dass es bei weitem nicht allen so geht. Es gibt Fratzen, die sind weit schlimmer, und ich kann mir nur vorstellen, wie schwer das sein muss.
Die Wahrheit ist: Du hast deinen Platz in meinem Leben – aber auf der Ersatzbank. Ich nehme dich wahr, klar. Du bist kein Gespenst, du bist real, und manchmal bist du auch echt anstrengend. Aber du bestimmst nicht mehr, was gespielt wird. Ich habe den Fokus geändert. Ich. Und das war die beste Entscheidung, die ich für mich und mein Leben treffen konnte.
Und ja, das war ein Prozess. Es hat Zeit gebraucht, Mut und ehrlich gesagt auch die ein oder andere Krise. Es ist nicht leicht, den Leuten um dich herum zu sagen: „Ich bin nicht nur die MS. Ich bin ein Mensch mit eigenen Wünschen, Träumen und Macken – die nichts mit dieser Diagnose zu tun haben.“ Manche Menschen verstehen das nicht, und das ist okay. Aber du selbst musst es verstehen.
Deshalb: Nein, ich werde deinen Geburtstag nicht nachfeiern, Fräulein Trulla. Und nein, ich werde auch keine Party für dein 30-jähriges Jubiläum schmeißen. Du bist Teil meines Lebens, aber nicht der Boss. Denn das bin ich.
Meine Botschaft an alle, die diesen Weg noch vor sich haben: Es ist okay, die MS eine Weile ins Zentrum zu stellen. Du musst lernen, mit ihr zu leben, sie zu verstehen und deinen Umgang mit ihr zu finden. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem du sie entthronen solltest. Nimm dein Leben zurück. Frag dich: Was tut mir gut, nicht der MS? Was möchte ich, unabhängig von der Diagnose?
Denn mit MS zu leben bedeutet genau das: Sie gehört dazu, aber sie ist nicht alles. Und genau das ist der Unterschied, der zählt.
Cheers auf 20 Jahre Lebenserfahrung – mit dir, Trulla. Aber vor allem: Cheers auf mich.
Birgit
Text: Birgit Bauer
Bild: mit Canva gemacht.
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