Ich hatte eigentlich einen Blogpost vorbereitet. Alles stand bereit. Aber ich habe ihn nicht veröffentlicht.
Zum einen, weil ich das Gefühl hatte, er würde einfach untergehen. Zum anderen, weil er – gerade mit Blick auf all jene, die gerade erst ihre Diagnose bekommen haben – nicht passend schien.
Denn was ich sah und las, hat mich erschüttert. Nicht wegen der Erkrankung selbst – mit der viele von uns leben – sondern wegen der Art, wie über sie gesprochen wurde.
Es war ein regelrechtes Buhlen um Aufmerksamkeit. Klar, in Social Media ist jeder Post wichtig – und auch für den Welt MS Tag an sich ist Sichtbarkeit nicht unwichtig.
Die Frage ist: Wie wollen wir nach außen wirken?
Als die arme Patientengruppe – oder als engagierte, aktive Menschen, die ihr Leben mit einer chronischen Erkrankung und den damit verbundenen schlechten wie guten Phasen dennoch leben? Wollen wir falsches Mitleid oder Aufmerksamkeit?
Ich erinnerte mich an eine Erfahrung, die ich ganz am Anfang meines Lebens mit MS machen durfte – und die mich ins Mark traf.
Damals besuchte ich eine Selbsthilfegruppe, von der ich gehört hatte. Damals war das mit Social Media noch keine große Sache.
Ehrlich: Ich war verwirrt, uninformiert und fühlte mich allein und dachte, ich treffe dort Menschen, die mir ein wenig Hilfe, Zuspruch und Zuversicht geben würden.
Stattdessen bekam ich die volle Ladung Gruselkabinett serviert: moralinsaurer Kämpferzeigefinger, getunkt in ein gar kämpferisches Klagelied.
Und es tut mir leid, wenn ich hier sarkastisch werde – aber es war so.
Ich ging, als sie anfingen, mir von der kommenden Inkontinenz zu erzählen, mir erklärten, wie ich mir einen Katheter selbst einführen könne oder wie ich am besten an die besten Krücken käme.
Ich hatte gerade die Diagnose bekommen. Ich war 33. Mir war himmelangst.
Ich sah mich schon mit Pissbeutel an der Seite meines Rollis vor mich hin gammeln. Daher war in dieser kleinen Selbsthilfegruppe dann auch schnell Schluss mit dem Gruselkabinett. Ich ging. Oder verließ fluchtartig den Raum. Als ich die Türe schloss, war es vorbei. Das, was mir Angst machte, blieb hinter dieser Türe – die ich nie wieder aufmachen würde.
Ist digital kommuniziert jetzt besser?
Heute findet diese Art von Kommunikation digital statt. Und gerade an einem Tag wie gestern wurde sichtbar, wie laut sie geworden ist. Zwischen leisen, emphatischen Stimmen, die berühren und Mut machen, stehen massenweise Beiträge, die Angst erzeugen. Mit Wucht. Mit Wut.
Und genau das verunsichert viele. In den letzten Monaten haben sich Menschen, die gerade aus der MS Diagnose kommen, gemeldet und suchten Rat. Sie fühlten sich überfordert und haben mich an mich erinnert. Sie wussten oft nicht, wie sie das einordnen sollen, was sie da lesen.
Viele haben sich zurückgezogen. Entfolgt. Sind still geworden.
Weil es zu laut wurde. Zu intensiv mit zu viel Wucht. Weil ihnen das Wissen fehlt, das zu trennen, was sie lesen, sie können klarerweise nicht differenzieren. Weil Wissen und Abstand fehlen.
Viele der Posts, die wir sehen, sind nicht nur wohlmeinend aus dem Wunsch nach Aufklärung heraus geschrieben. Sie sind oft strategisch. Für Reichweite. Für Sichtbarkeit. Verständlich – ja. Das ist Social Media. Aber ist es Patientenkommunikation? Ich setze hier bewusst meinen Expertin in Patientenkommunikationshut auf und stelle das mal in Frage.
Klar ist: Sichtbarkeit kann helfen, wichtige Themen zu platzieren.
Müssen wir uns nicht fragen, wie viel Reichweite und Strategiedenke es braucht – und wie viel mehr menschlich gestaltete Aufklärung in einem guten, sachlichen Ton nötig ist? Vielleicht auch angemessener und beruhigender wäre?
Was nützt der lauteste Post, wenn er die verunsichert, die gerade erst beginnen, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden?
Genau die, die man eigentlich erreichen will, vergrault man. Man verleitet sie zum panischen Rückzug – aus Angst vor einem Leben, das erst noch vor ihnen liegt.
Ist das ein erstrebenswertes Ziel?
Oder sollte die sogenannte "Selbsthilfe" und Aufklärung nicht anders wirken – stärkend, einfühlsam, einladend?
Aufklärung muss stattfinden – keine Frage. Die Informationen, so schlimm sie manchmal sein mögen, sind nötig, weil wir auch entscheiden müssen. Informiert. Bewusst aber eben auch kritisch hinterfragend. Kompetent.
Menschen mit Erkrankungen müssen wissen, was los ist, was im schlimmsten Fall passieren kann. Aber sie müssen genauso sehen können, dass ein Leben mit einer Erkrankung dennoch lebenswert bleiben kann. Wenn man es möchte.
Und das sollte unser Ziel sein. Motto: Ja, es kann passieren – muss aber nicht.
Und das beste Beispiel dafür? Ich kann immer noch selbst aufs Klo.
Und bevor mich hier einer angreift, mir ist klar, dass es nicht immer selbstverständlich ist, aber ich bin ein Beispiel für – muss aber nicht. Auch das gibt’s.
Leben mit MS ist kein Spaziergang
Aber es ist auch kein ständiger Ausnahmezustand. Realistisch betrachtet ist es ein Leben. Nicht immer einfach, ja, aber eben auch mit allen anderen Ereignissen, die in einem Leben so passieren.
Es gibt Phasen, in denen man sich überfordert fühlt. In denen man den Rückzug braucht. Und es hilft, dann eigene Inseln zu haben. Orte, an denen man zur Ruhe kommt. Menschen, die einen auffangen. Erinnerungen, die trösten. Das kann eine Bank im Wald sein, ein Cafe, was immer hilft.
Ein gutes Netzwerk macht viel aus. Eins, das aushält, dass es mal nicht geht. Das ein Nein versteht. Das nicht drängt, sondern trägt. Und das den Genuss nicht nimmt, wenn er sich zeigt – sondern mitfeiert.
Es geht nicht darum, perfekt zu sein. Es geht darum, weiterzumachen, wenn man kann.
Wer seinen Job liebt, soll ihn behalten. Oder ihn sich so bauen, dass er weiter möglich ist. Manche werden zu früh in die Rente geschickt – mit 34 zum Beispiel, also ich und sie haben sich alle redlich bemüht - und sind gescheitert. An meinem Dickschädel und meinem Überlebenstrieb.
Heute, mit 53 bin ich Unternehmerin. Ich bin mitten im Leben. Nicht trotz MS – sondern damit. Und ich kann dankbar sagen: ich bin angekommen und zufrieden.
Nicht, weil alles leicht war. Sondern, weil es möglich ist, Wege zu finden. Auch im Schub. Auch mit Einschränkungen. Auch mit Zweifeln.
Natürlich braucht es Achtsamkeit. Pausen. Reflexion. Aber vor allem braucht es eine Haltung, die nicht von außen kommt, sondern von innen. Eine eigene Meinung – unabhängig von Likes und Trends. Ein Gespür für das, was guttut. Und den Mut, sich davon leiten zu lassen. Wenn es mal nicht rund läuft, ist das kein Scheitern. Es ist ein Moment. So wie viele andere auch.
Denn am Ende bleibt diese Frage offen – und sie lohnt sich:
Wie wollen wir nach außen wirken?
Wollen wir als die armen Schweine dastehen, die man bemitleidet – oder als eine Gruppe, die respektiert wird für das, was sie leistet, und der man zuhört?
Mitleid ist oft nur ein kurzer Reflex: Ich leide mit – und dann ist es mir wieder egal.
Respekt ist Beachtung. Aufmerksamkeit. Und häufig ein echtes, hilfreiches Angebot.
Und genau das ist es, worauf es ankommt:
Nicht das Leid in den Mittelpunkt zu stellen – sondern das Leben. Damit auch die, die im Moment noch keine Richtung haben, eine finde, die sie befähigt weiter zu leben, zufrieden zu sein und Freude zu empfinden.
Nachdenklich,
Birgit
Text: Birgit Bauer
Bild: pixabay.de
Liebe Birgit, danke für diesen tollen Artikel und deine direkte Art zu schreiben. Wenn ich solch eine Selbsthilfegruppe besucht hätte, hätte ich meine Beine in die Hände genommen und wäre davon gelaufen. Ich bin Gruppenleiterin und an erster Stelle steht der Mensch, dem ich zuhören möchte und den ich auffangen will aber auch die Zeit geben möchte, die er nach der Diagnose braucht. Im Stillen kann man soviel bewirken, man muss nicht ständig schreien, wie du schreibst „ ich bin so arm dran mit MS“, nein, wir müssen die Menschen aufrichten, stärken, Wissen vermitteln und keine tränenreiche Reichweiten- generierten Artikel und Post verfassen. Das ist meine persönliche Meinung und mein Weg der Kommunikation!
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