Dienstag, 10. Juli 2012

Wir wissen, wie es MS Patienten geht!

Diesen Satz hörte ich neulich, besser gesagt, noch immer in London, der Präsentation einer sehr netten Dame aus der Pharmabranche.

Es ging um MS und mein Kopf Kino sprang an ... Der Film könnte heißen: Die Furie und Fräulein Trulla

Hauptrolle: Birgit Bauer

Nebenrolle mit sehr viel Potenzial: Fräulein Trulla

Regie: Das Leben und die Präsentation

Wie gesagt: Wir wissen, wie es MS Patienten geht.

Wir sitzen im Publikum. Fräulein Trulla im guten Kostümchen, das beste Spitzenkrägelchen um den faltigen Hals, ich aufmerksam im mir ganz eigenen Businesslook (schöner Blazer, freches Tuch, weiße Jeans und sehenswerte Treter) und sind gespannt.

Da kommt er: DER Satz. Wir schrecken auf. Hören sofort auf zu schreiben und nehmen Haltung an.

Was sagt die da? wispert dat Trulla.

Haste das gehört? wispere ich entsetzt zurück.

Wir sehen uns an. Wir sind uns einig. Einmal im Jahr sind wir das. Wir erheben uns. Die Mission "Bühnenbefreiung" läuft.

Wir laufen los. Zuerst dezent und gemessenen Schrittes, dann werden wir schneller und greifen ein. Während Trulla schreiend wie ein alter Indianer auf dem Kriegspfad mit aufgelösten Löckchen voranstürmt und die Welt erschreckt, schubse ich die Vortragende von der Bühne.

"Freiheit für die MS Patienten", skandieren wir lautstark und plärren "Ihr habt doch keine Ahnung!" hinterher. Trulla stolpert fast über die darnieder liegende Referentin, die durch meinen deftigen Schubser zu Boden ging (Body Check 1:0 für Furie Bauer) und hinterlässt einen giftigen orthopädisch wertvollen Schuhabdruck auf deren schönem Sakko. Während ich den Moderator mit einem klassischen "Ich strecke meinen Fuß aus und du stolperst" Trick von der Bühne befördere und ihm grinsend hinterher feixe, beginnen erste Menschen im Publikum für uns zu applaudieren.

Wir erobern mit Energie das Mikrofon und während Trulla die Saalordner giftig zischend und in bestem Oxfordenglisch palavernd in Schach hält und ihren Taschenschirm als Waffe nutzt, erkläre ich den Anwesenden, dass das alles nicht so einfach ist.

Freunde, Ihr wißt es nicht ...

Klar ist, jeder, der mit Patienten arbeitet, hat eigene Statistiken. Meistens fallen die natürlich gut aus, denn wer erzählt schon gerne Übles? Keiner. Das wissen wir alle. Ich will auch nicht behaupten, dass immer alle Statistiken so formuliert sind, dass sie sich gut anhören, aber wer mir erzählen will, dass er weiß, wie ich mich fühle, der hat irgendwie schlechte Karten.

Es nervt mich ein wenig, wenn so pauschale Aussagen kommen. Es ist doch bekannt, dass jeder MS Patient andere Beschwerden hat und keiner dem anderen gleicht. Ich habe eine Bekannte, die hat extreme Probleme mit den Augen und derzeit eine Schwäche für Farbunterscheidung, ein anderer Bekannter sitzt im Rolli und wieder eine andere Patientin, die ich kenne, kämpft derzeit mit einer extremen Blasenschwäche. So, wo sind die gleich?

Gibt man mich noch hinzu, könnte man meine leicht taube linke Hand anführen und ein wenig Schwäche während des Tagesverlaufs. Nichts wirklich Schlimmes, aber ich bin schon wieder ein neuer, anderer Fall.

Kann man MS Patienten und deren Befinden wirklich beurteilen? Ich glaube nicht. Jeder Fall ist so unterschiedlich, wie es die Patienten eben auch sind. Nicht umsonst, und ich wiederhole mich arg fürchterlich, heißt es immer, das MS die Krankheit der tausend Gesichter ist. Jeder Neuro erzählt einem das und man bekommt immer den Satz "Wir können nicht voraussagen, was passieren wird oder wie es ihnen ergehen wird!" Und? Klingelts? Weissagungen in Sachen MS und zu wissen, wie es uns Patienten geht, sind keine guten Dinge. Sie funktionieren nicht.

Jeder ist anders. Woher will man also wissen, wie es MS Patienten geht? Kann man gar nicht.

Aus Statistiken kann man vielleicht ablesen, wie es Patienten mit den unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten geht. Wenn man auf Nebenwirkungen, Wirkungsweisen oder Therapieverläufe blickt, geht das schon eher. Aber dann muss man das auch sagen. Und zwar nicht erst mitten in der Veranstaltung oder zum Ende als Fazit. Sondern zu Beginn. Zu leicht läuft sonst so mancher in die Irre.

Und wer will das schon?

Wie es mir geht? Meine linke Hand ist ein wenig taub, aber nicht schlimm. Sonst geht es mir gut, aber ich war auch zwei Wochen in Urlaub und hatte meinen Spaß in einer leisen, aber dennoch eindrucksvollen Landschaft, die mir so manche Entscheidung und viele tolle Gedanken und jede Menge Entspannung geschenkt hat. Bis auf die Tatsache, dass ich zu kurz dort verweilen konnte ... Aber das ist ok. Ich habs genossen. Und Urlaub ist wohl immer irgendwie zu kurz.

Wie geht es Euch?

Birgit

1 Kommentar:

  1. Wie es mir geht? Vor 7 Jahren, mit 37, die Diagnose MS erhalten. Seitdem habe ich eins der -mindestens- tausend Gesichter! Manchmal Gleichgewichtsstörungen, manchmal kribbelnde Beine, öfters mal erschöpft. Auch mir hat man gesagt: wie es weiter geht bei Ihnen? Keine Ahnung. Entweder Sie haben Glück und sind in 30 Jahren vielleicht maximal auf einen Gehstock angewiesen oder nicht und Sie sitzen mit 38 im Rollstuhl.
    Wie es mir geht? Blendend. Meistens. Genieße das Leben, so wie es ist. Allerdings, und da gebe ich Dir völlig recht: Der Urlaub ist sowieso zu kurz! Und Trulla ist immer dabei!

    ;-)

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