Dienstag, 3. August 2021

Über das eigene Potenzial ... und das Leben mit MS!

Neulich erklärte mir jemand in einem Gespräch ich würde mein Potenzial nicht vollständig nutzen. Es wäre verschenkt. 

Ehrlich gesagt, ich war sauer. Da knallt dir jemand, der dich oder die Situation in der du dich befindest etwas gegen den Latz das richtig weh tut. Ungefragt und unreflektiert hörst du, dass du dein Potential nicht nutzt. 

Einerseits ist es ein Kompliment, jemand erkennt das, was du kannst und siehst was du bist, so ohne MS. Auf der anderen Seite wäre es aber fair gewesen, sich die andere Seite anzusehen. Die, die man bei mir nicht sieht, die aber da ist, mein Leben mit MS. 

Andererseits: Ich bin ein typischer Fall von #butyoudontlooksick. Keiner sieht wirklich, dass ich mit Fräulein Trulla lebe, die im richtigen Leben Multiple Sklerose heißt und die ziemlich fies sein kann. Besonders mit unsichtbaren Symptomen wie Fatigue, Depression, Schmerzen, Konzentrationsstörungen und vieles mehr. Das sieht man nicht.

Genauso wenig wie man Bauchkrämpfe sieht oder Kopfschmerzen. Sind ja auch da, aber nicht immer sichtbar. Denn wie bei MS wachsen einem auch keine pinken Pickel aufm Hirn. 

Und nur weil ich nicht krank aussehe, wahrscheinlich zu gut, verschleudere ich also mein Potenzial? 

Potenzial ist eine Sammlung von Leistungsfähigkeit und Talenten. Beides haben wir alle, unabhängig von der Bereitschaft eines Menschen, dieses Potenzial zu nutzen. 
Schöpft man ein Potenzial (gibt ja viele)  aus, muss man sich einsetzen, Kraft aufbringen und sich engagieren. Oft kann das bis zum Limit gehen, um diese besagten vollen 100% auszuschöpfen. In einer Gesellschaft, die meist vom Leistungsdruck getrieben ist, ist das wichtig. 

Lebt man mit MS, ist das anders. 

Leben mit MS bedeutet ab und an etwas nicht zu tun, weil man genau weiß, dass die Kraft dafür fehlt. Das Potenzial zu haben, MS zu verstehen und das Leben so zu gestalten, dass es für einen ok ist. Alles andere steht im Hintergrund. Wenn wir also über Potenzial und MS diskutieren, behaupte ich, dass wir, die wir mit der Erkrankung leben, natürlich die Absicht haben, das Potenzial für leben mit MS voll auszuschöpfen. 
Was im Umkehrschluss aber auch bedeutet, Prioritäten zu setzen. 

Prioritäten vs Potenzial 

Oft sind die Prioritäten völlig gegensätzlich zum Potenzial. Wie oft passiert es, dass man sich im Fatiguemodus wirklich überlegt, ob man aufs Klo geht oder sich die Zähne putzt, weil es einfach nicht geht. Weil der Körper nicht mag. Da kann da noch haufenweise Potenzial für etwas sein, aber man ist nicht in der Lage es zu nutzen. Weil die Kraft fehlt. Die Prioritäten verschieben sich und so wenig wir uns das wirklich wünschen, was bleibt übrig? Daher kann es gut sein, dass Potenzial oft liegen bleibt. Auch bei mir. Das ist klar, aber ich weiß auch sehr gut, was abgeht, wenn ich das Potenzial über die Priorität stelle. 

#butyoudontlooksick 

Mir war klar, warum man mich so derbe angepackt hat. Man sieht mir meine MS nicht an. Ich lache oft und viel und erzähle Fremden gegenüber nicht unbedingt nach 2 Minuten Gespräch, warum ich mein Potenzial nicht ausschöpfe oder welche Befindlichkeiten mich gerade ms-technisch plagen. Meine Schlafprobleme, Schmerzen oder meinen derzeit aktuellen fiesen Tremor sieht man nicht und ich sehe auch nicht ein, warum ich das jedem sofort auf die Nase binden soll. 

Dennoch ist vielen bis heute nicht klar, dass MS nicht unbedingt bedeutet, dass man sie sofort sieht. Man kriegt keinen grünen Pickel oder so. MS hat so viele unsichtbare Symptome, von denen nur die wissen, die damit leben. Bis heute arbeiten wir alle daran, hier etwas Verständnis zu bekommen und reden drüber, aber offenbar müssen wir noch viel lauter werden, damit es besser verstanden wird. 

Und dann kommt das Dilemma ... 

Man ist also in einem Dilemma. Sag ich es nicht, kann es mir passieren, dass ein unreflektierter und nicht informierter Mensch mir Dinge gegen die Birne haut, die mir weh tun. Sag ich es, laufe ich schon Gefahr in die Mitleidsnummer zu rutschen oder das sachliche Gespräch zu verlieren und, wie ich, völlig unvorbereitet mit einer Fragenkaskade konfrontiert zu werden, die einen direkt in die Rechtfertigungsschleife schubst wenn man nicht aufpasst. 

Das richtige zu sagen ist dann schwierig. Es ist einem ja bewusst, dass man sein Potenzial nicht vollumfänglich nutzt. Es ist einem aber auch bewusst, welche Gefahr man läuft, tut man es doch. 

Was ist also wichtiger: Ausschöpfen des Potenzials oder gut mit MS leben? 

Für mich ist es das gute Leben mit MS. Möglichst Symptom- und Progressionsarm leben. Von "frei" will ich gar nicht reden, MS ist keine monatlich auftretende Sache, sondern findet täglich statt. 

Das muss man akzeptieren und verstehen. Auch als Mensch ohne MS wenn man sich anschickt mit einem Mensch mit MS zu sprechen. Es hilf übrigens sich über MS zu informieren, um zu verstehen, warum jemand so handelt wie er es eben tut. By the way: Google und Social Media helfen ungemein, da gibts echt viele Infos zum Vorabinformieren! 

Ich lebe nicht "schneller, höher und weiter", ich lebe mit MS und damit in einem anderen Tempo und mit anderen Ansprüchen. In der Hinsicht schöpfe ich mein Potenzial aus und nutze meine Talente. Dass ich in anderen Bereichen, z.B.  in beruflicher Hinsicht andere Prioritäten setze oder meine Ziele anders definiere, ist klar. 

Potenzial muss man sich leisten können, kräftetechnisch. Es muss machbar sein. Sicherlich kann man ab und an mehr, oder könnte, man mehr tun. Ja, man kann seinen Rahmen erweitern, das machte ich in der Vergangenheit und mache ich immer wieder. Aber ich weiß genau, wo das Stoppschild steht, das mich für einen Moment in die Parkposition schickt und mir etwas mehr Priorität als Potenzial verordnet. 

Die Frage ist also, welches Potenzial man ausschöpft. 

Das für die innere Zufriedenheit und eine gute Balance oder das für die Karriere? 

Ich bin für eine gute Mischung. Gerade komme ich aus dem Urlaub und muss zugeben, ich war platt. Und die Frage ist dann auch, will ich meinen Urlaub mehr oder weniger mit MS Beschwerden verbringen oder schöpfe ich alles so aus, dass ich Spaß im Urlaub haben kann? 

Wer gesund ist, kann sein Potenzial vollumfänglich und bis zur Erschöpfung ausnutzen. Gerne, legt los und habt Spaß. Aber wer uns unterstellt, wir würden unser Potenzial nicht nutzen, muss erst mal über MS mehr wissen und das Leben dahinter verstehen. 

Und das bringt uns zum Ende oder zum Anfang zurück: Nämlich zum Verständnis von anderen und deren Situation. Den Punkt, über den ich seit Jahren rede: MS zu haben bedeutet anders zu leben, aber nicht zwangsweise krank auszusehen. 

MS zu verstehen bedeutet, zu akzeptieren, dass jemand jetzt nicht kann oder etwas nicht macht, auch wenn er lacht und gut aussieht. Und es heißt auch, uns zuzuhören, zu verstehen. Denn am Ende geht einen das, was ein anderer entscheidet oder tut, erst einmal rein gar nichts an. 

Wie seht Ihr das? 

Birgit



Text: Birgit Bauer, Manufaktur für Antworten UG

Bilder: pixabay.com 

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