Sonntag, 29. Mai 2022

Welt MS Tag 2022 - Voll im Leben! - Steh für dich ein!


 Vor einiger Zeit habe ich über das Menopausenthema gesprochen und Caro von “Frauenpower trotz MS” kam dazu und wir tauschten uns eine Weile darüber aus, wie schwierig es ist, über Tabuthemen wie dieses zu reden. 

Es geht ja letztlich darum, für sich und die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Dass das nicht einfach ist, ist klar. Es ist eine Tabuzone und man spricht nicht darüber. Das hört man oft. In den letzten Jahren habe ich angefangen, genau diese Tabuzonen zu brechen, darüber zu reden. Egal ob es das Thema Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung oder die Playlist für meine Beerdigung ist, Menopause oder was anderes, ich rede drüber. Und daher fand ich es so schön mit Caro zu sprechen und auch von ihr zu lernen und ihre Gedanken zu kennen. Entstanden ist das hier und wir fanden, es ist gerade zum Thema #VollimLeben und zum Welt-MS-Tag eine Sache, die passt. Weil Drüberreden auch "Voll im Leben" stehen ist. :-) 

Wir beide sehen, dass das Formulieren dieser Bedürfnisse, egal ob Menopause, fehlende Barrierefreiheit in Arztpraxen oder mangelnde Aufmerksamkeit für nötige Assistenzen für viele schwierig ist und dass viele es daher nicht tun. 

Klar ist das offene Formulieren eines Problems eine Herausforderung, aber wir sollten darüber sprechen können und es tun. Egal ob MS, eine andere Erkrankung oder ganz gesund und es zwickt im Alter. 

 

Gerade bei MS gibt es viele Themen, die peinlich sind. Es geht nicht nur darum, dass es mit dem Sex nicht mehr klappt oder die Blase zu schwach ist. Wir reden auch über den Bedarf von Assistenz, dass man aber nicht danach fragt, weil es peinlich ist zuzugeben, dass man etwas nicht mehr kann. Es kostet Überwindung. Genauso bei psychischen Problemen wie Depressionen, bei Kognitionsproblemen oder Schlafstörungen. MS ist in vielen Fällen unsichtbar, viele sehen gesund aus, sind es aber nicht. 


Man braucht Unterstützung, hat besondere Bedürfnisse, Fragen und Wünsche. Oft sind es Dinge, für die es Lösungen gibt und die man auch bekommen kann, würde man danach fragen. Eigentlich steht man, so das Motto des diesjährigen Welt MS Tages, “voll im Leben” und tut es doch nicht. Weil man sich der Herausforderung stellen müsste, das zu äußern, was einem peinlich ist oder weil man sich fühlt, als würde man zugeben müssen, dass man nicht fähig ist. Was man durchaus wäre, hätte man gefragt. 

 

Die Frage ist, ist es das wert? Wir beide haben im Laufe der Zeit gelernt, dass das Drüber reden mehr bringt als Schweigen. Wir wissen beide, dass das für sich Einstehen nicht immer bequem und einfach ist für andere, aber es hilft, unser Leben so gut wie möglich zu leben und dennoch Spaß zu haben. 

 

Deshalb haben wir für uns zum Welt MS Tag Gedanken gemacht, wie man über das spricht, über das man an sich nicht sprechen möchte. Wir haben gesammelt, recherchiert und diskutiert.

 

Was ist zu tun, wenn ein Problem richtig dringend wird? 

 

Caro: Ich konnte früher nicht offen über diese Themen wie Blasenprobleme oder über Sex sprechen. Je älter ich wurde, umso offener wurde das. 

So authentisch wie möglich versuchen Birgit und ich auf unseren Blogs über Themen, die sich keiner eingestehen möchte und die doch uns allen unter den Nägel brennen, zu schreiben. Wenn du schon nicht mit deinem Partner über Sex sprechen möchtest oder es nicht kannst, dann such dir professionelle Hilfe wie einen Psychologen, Gynäkologen oder Fachmann:frau. Sind Probleme erstmal da, solltest du handeln. Du bist nicht alleine, viele andere haben ähnliche Probleme. In einem Artikel über Sexuelle Störungen bekam ich viele Mails, auch Kommentare und ich sag, dass man “darüber” sprechen möchte, es aber keiner tut. Sich einzugestehen ist wichtig und es ist dein Recht, das offen auszusprechen. Nur wer sich eingesteht, dass da etwas falsch läuft, erlebt Verständnis oder einen ganz neuen Lebensabschnitt. 

 

Birgit: Das „sich eingestehen“, dass da was falsch läuft ist der erste wichtige Schritt. Gerade am Anfang ist es echt schwer offen zu formulieren, dass was nicht stimmt. Es fühlt sich wie eine Niederlage an. Ist es aber nicht. Es geht nicht nur um die intimen Dinge des Lebens. Für mich war es schon schwierig, als ich das erste Mal nach einer Gehhilfe fragte. Mir hat niemand etwas angebote, ich musste selbst danach fragen. Der Satz: „Ich brauche Hilfe um wieder gehen zu können.“, hat gebraucht. Aber ich habs getan. Ich habe gelernt, wer fragt kommt weiter und holt sich auch ein Stück Lebensqualität zurück.

 

Was kann helfen?

 

Birgit: Was mir immer gut geholfen hat ist Information. Allerdings bin ich vorsichtig, was Dr. Google betrifft, der liefert uns nicht immer die besten Infos. Ich habe die Websites der gängigen Patientenorganisationen wie die DMSG oder die Amsel besucht und habe mir auch Angebote aus dem Ausland angeschaut.  Mittlerweile gibt es eine Flut von Websiten, die Wissen liefern. Hier gilt es, sorgfältig auszuwählen, nicht alles, was geteilt wird, entspricht der Wahrheit oder liefert die Fakten, die nötig sind. Daher ist es wichtig, kritisch zu bleiben, zu hinterfragen und wenn nötig, auch den Arzt mit den Fragen zu konfrontieren und eine Antwort einzufordern. Auch Krankenkassen können helfen, Informationen zu bekommen. 

 

Caro: Im Gegensatz zu Birgit leite ich sogar eine Selbsthilfegruppe. Einen Monat nach der Diagnose war ich damals beim ersten Treffen. Vor 18 Jahren gab es noch nicht solche Unmengen an Webseiten. Die DMSG und Amsel sind bis heute gute Anlaufstellen für mich. Auch Fachliteratur, wie Infomaterial von MS-Zeitschriften oder der DMSG, Fachbücher von Ärzten und Therapeuten. Besonders der Austausch mit Gleichgesinnten in den sozialen Netzwerken finde ich sehr bereichernd. Achten sollte man auf Besserwisser, Gurus und Artikel, nicht alles ist wahr, ich sehe es so wie Birgit. Hinterfragen, Fachleute ansprechen. Auch die DMSG/Amsel hat Fachpersonal. Bei einem Klinik- und Reha Aufenthalt können Sozialberater:innen ebenso weiterhelfen. Mit dem Sozialverband VDK machte ich in den letzten 18 Jahren ebenso gute Erfahrungen. 

 

Und wie sag ich es jetzt? 

 

Birgit: Eine Geheimsprache gibt es nicht. Ich glaube, der erste Durchbruch ist, wenn man sich selbst eingesteht, dass da was gründlich schiefläuft. Ich stand damals vor dem Spiegel, schaute mir selbst ins Gesicht und erklärte mir, dass das mit dem Gehen gerade echt nicht geht und mich im wahrsten Sinne des Wortes behindert. Danach bin ich zum Arzt und hab ihm grad heraus gesagt, was ich brauche und nach Hilfe gefragt. 

 

Caro: Nach dem Verdrängen und dem Gewöhnen an die Erkrankung und dem Verstehen, dass manches einfach nicht mehr so funktioniert, hat es bei mir einen Schalter umgelegt. Ich schau heute noch wie Birgit in den Spiegel und denk, hey Caro, so geht das nicht, du musst da jetzt was tun! In die Pötte zu kommen ist enorm wichtig. Mein erster Neurologe war für mich eine totale Bezugsperson; mit ihm konnte ich alles besprechen, außer über Sex. Leider ist er in Rente und nach zwei anderen Ärzte fand ich meinen heutigen, der mir wieder in die richtige Spur half. 

 

Der Termin mit dem Arzt, was braucht es jetzt? 

 

Caro: Oft werde ich gefragt, wie findet man den richtigen Arzt? Ausprobieren. Nach der Diagnose, meist gestellt in der Klinik, bekommst du vielleicht eine Empfehlung. Du hast doch sicher einen Hausarzt? Ihn würde ich immer in deine Erkrankung mit einbeziehen. Ich fahre auch parallel. Jeder hat sein Schwerpunkt, da kannst du Infos, Tipps bekommen und dort werden ebenso Weiterbehandlungen zu Fachärzten und Therapeuten eingeleitet. Ebenso bei Psychologen. Wichtig für mich waren direkte Parkplätze vor der Praxis oder in unmittelbarer Nähe wegen meiner geringen Gehstrecke und dass die Praxis barrierefrei ist. Eventuell ist eine Apotheke im selben Haus, ansonsten eine Versandapotheke. Ich muss mich wohl fühlen und das Gefühl ernst genommen zu werden.

 

Birgit: Erstmal braucht man den richtigen Arzt, es kann in vielen Fällen der Hausarzt sein, der einem einen Tipp gibt oder der einen an den richtigen Facharzt überweist. Es kann auch der Neurologe sein, der helfen kann. In Fällen, in denen man über Intimes reden muss, gibt es Urologen oder Gynäkologen. Was ich oft schon gesehen habe von meiner Community ist, dass viele Arztpraxen nicht barrierefrei sind. Wie kommt man mit dem Rolli rein und kann man dann behandelt werden? Das muss man klären. Also: richtiger Arzt in einer vernünftigen, barrierefreien Praxis und wie oben schon erwähnt: Informationen sind der Schlüssel, um herauszufinden, was geht und um eine vernünftige Diskussion mit den Ärzten zu führen. 

 

Hilft es, sich auf den Termin vorzubereiten? Wenn ja wie? 

 

Wichtig ist es, einen Plan zu haben, also sich zu informieren und die eigenen Prioritäten zu kennen. 

 Wir beide notieren uns Fragen und haben beide auch Apps auf dem Smartphone, um Symptome festzuhalten. 

Der Spezialtipp von Caro: schreib dir die wichtigsten Dinge auf einen Zettel, man kann das leicht ablesen und das hilft beim Arztbesuch. 

 

Wichtig ist die Vorabinformation, wir beide finden, dass es wichtig ist, vor dem Arzttermin die wichtigen Informationen zu sammeln, zu verstehen und zu wissen, welche Therapien aktuell sind. 


Ein weiterer Punkt für uns ist eine Liste, die man sich macht, Prioritäten zu setzen und diese Liste auch gezielt beim Arzt abzuarbeiten, um die begrenzte Zeit so sinnvoll wie möglich zu nutzen. Es gibt übrigens viele unterschiedliche Formulare und Vordrucke von verschiedenen Anbietern, die helfen können, die wichtigsten Punkte aufzulisten. 

 

Was wir beide auch noch wichtig finden ist Pünktlichkeit, wer pünktlich oder etwas vor dem eigentlichen Termin in der Praxis ankommt, kann sich in Ruhe einfinden und ist weniger gestresst. 

 

 

Hilft es eine Vertrauensperson mit zu bringen? 

 


Wir haben in diesem Punkt die gleiche Auffassung. Wenn man nervös ist, neigt man dazu, etwas zu vergessen oder sich zu verhaspeln. Eine Vertrauensperson, wie eine Freundin, kann helfen ruhiger zu bleiben und das zu bekommen, was nötig ist. Außerdem: vier Ohren hören mehr als zwei und zwei Köpfe nehmen mehr war. Das heißt, Informationen können besser eingeholt und verstanden werden. Das hilft auch, alles so gut wie möglich zu verarbeiten und bestmöglich zu entscheiden. 

Der andere stellt vielleicht andere Fragen, an die man selbst nicht gedacht hat. Zu Hause entscheidet man zusammen. Die Person kann vielleicht in Zukunft bei wichtigen Dingen begleiten und helfen. Das nimmt die Nervosität und schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre. 

 

Wie sag ich’s den Angehörigen oder Freunden? 

 


Birgit: Man muss nicht allen alles sagen. Natürlich ist es wichtig, mit dem Partner oder der Partnerin darüber zu reden, es geht auch darum, dass man auch Zuhause die Hilfe bekommt, wenn es mal klemmt. Nicht jedes Thema ist auch für alle, Themen wie Sex bleiben intern. Braucht man jedoch Hilfe, weil man einen Rolli bekommt oder mit dem Rollator läuft, muss man drüber reden. Ich habe das immer Stück für Stück gemacht. Zuerst war immer das Herzblatt der Ansprechpartner, dann der Rest und wir haben oft gemeinsam entschieden wie wir jemanden mit Infos versorgen. Ich war schon ziemlich offen, wurde aber oft auch dann ziemlich mies behandelt. Daher wurde ich ein bisschen vorsichtiger über die Zeit. Manchen reicht eine knappe Ansage und andere brauchen die große Informationsschleife. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, dass man zuerst selbst klarkommt, informiert ist und dann darf der Rest mitkommen, sofern nötig. 

 

Caro: Ich bin von Anfang an offen mit meiner Diagnose umgegangen. Klar, da haben sich einige verabschiedet, aber ich ebenso. Doch heute würde ich vorsichtiger damit umgehen. Zu schnell sind Menschen im Umfeld überfordert. Man kann auch nicht jeden solch eine Diagnose erzählen. Es sollte wohl überlegt sein. Doch damals mit zwei kleinen Kindern ohne Partner, mitten im Scheidungskrieg, wusste ich mir nicht anders zu helfen. Ich hoffte tatsächlich, ich bekäme Hilfe angeboten und alle stehen hinter mir.

Bei intimen Dingen finde ich sind Partner oder Ärzte oder enge Freunde gefragt. Am besten die Diagnose selbst akzeptieren und damit zurechtkommen, dann erst solltest du sortieren, informieren und du weißt dann auch, wem du um Hilfe bitten kannst. 

 

Und wenn ich es nicht hinkriege oder schaffe? 

 

Caro: Es ist nicht das Ende, aber Aufgeben ist keine Option. Innehalten und neu sortieren. Mit einer Vertrauensperson sprechen oder gewisse Anlaufstellen aufzusuchen wie zum Beispiel die Caritas oder Frauensprechstunden. Alleine kam ich nicht klar und deswegen suchte ich mir eine Psychologin. Mit Frauen komme ich einfach besser klar, über jeden und alles zu sprechen. Ich hatte Probleme, einen Termin zu bekommen, aber es gibt ein Gesetz, da half mir mein Hausarzt, dass ein Psychologe eine Person für 5 Stunden zumindest annehmen muss. Dann kann man die Therapie fortsetzen oder der Arzt kann einen anderen Arzt empfehlen. Lass nicht locker. Formuliere deine dringlichsten Probleme. Ebenso können Bücher für die Wartezeit helfen oder Selbsthilfegruppen vor Ort, gegebenenfalls wirst du im Internet fündig. Aber am besten hier über seriöse Seiten gehen oder bei MS-Gesellschaften anfragen.

 

Birgit: Ich habe mir immer psychologische Hilfe gesucht. Wenn ein großes Problem auftaucht kann ein guter Psychologe oder eine gute Psychologin helfen, die Dinge neutral zu betrachten. Auch ein Coach kann helfen, Dinge zu sortieren. Und ja, mir ist klar, dass es schwierig ist, an Termine zu kommen, aber auch hier muss man für sich einstehen. Nur einmal anfragen ist vielleicht ein bisschen wenig, man muss auch hier aufstehen, vielleicht auf den Tisch hauen und die Dringlichkeit betonen. Übrigens, es gibt auch Apps, die man auf Rezept bekommt, so genannte DIGA’s (digitale Gesundheitsanwendungen) die helfen können, das Leben mit einer Erkrankung besser zu managen, sie sind oft schneller verfügbar als der Termin bei einem Psychologen und daher ist das eine gute Alternative. Es gibt außerdem viele psychologische Angebote, die zumindest am Anfang ganz gut helfen können, sich zu sortieren und umzudenken. Auch ein Seelsorger kann helfen. 

 

Die Tipps, die wir gesammelt haben, gelten für alle Menschen mit MS und alle Probleme. Die genannten sind beispielhaft für viele Belange, die uns beschäftigen. Aber eine gute Lösung ist es wert, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen und nicht nur den Status Quo schweigend hinzunehmen und sich woanders über die Missstände zu beklagen. 


Das hilft niemandem – aktiv werden schon!  Daher finden wir es wichtig, für sich einzustehen, quasi den Hintern hochzukriegen und Dinge in die Hand zu nehmen. 


Auch das ist Lebensgestaltung und selbstbestimmt Leben. Es schafft Unabhängigkeit und Freiheit und wir sind der Meinung, das ist es wert. Wir sind es uns wert! Und sind: Voll im Leben! Mit MS! 

 

Herzlichst, Caro und Birgit! 

 

Text: Birgit Bauer und Caroline Règnard-Mayer 

Bilder: Collage Caroline Regnard-Mayer, Bilder Pixabay.com 

2 Kommentare:

  1. Liebe Birgit,
    ein tolle Zusammenarbeit mit dir und ich hoffe, wir können ein paar Menschen zum Eingestehen abholen und ihnen Mut machen.
    Viele liebe Grüße Caro

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    1. Es war mir ein Vergnügen liebe Caro und wenn wir nur einen bewegen konnten, war es das absolut wert. Abgesehen davon, dass es mir riesig Spaß gemacht hat! Liebe Grüße Birgit

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