Mittwoch, 20. August 2025

Workshops mit Aha – und mit Herz: Wie Lernen mit MS funktioniert (und was andere davon lernen können)


Wir wissen: Lernen ist nichts, was einfach so geschieht. Es ist ein hochkomplexer Prozess im Gehirn – und dieser Prozess verläuft bei jedem Menschen etwas anders.

Das weiß ich aus Erfahrung, ich leite immer wieder Workshops und lerne dadurch auch die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Gehirnen und Denkweisen kennen. Heute möchte ich mal über MS reden. 

Bei Menschen, die mit Multipler Sklerose (MS) leben – so wie ich – betrifft die Erkrankung nicht nur Muskeln, Bewegungsabläufe oder das Immunsystem, sondern auch kognitive Prozesse. Das heißt: Denken, Erinnern, Planen, Strukturieren, Verarbeiten – all das kann durch MS beeinflusst werden.

Viele erleben Fatigue (eine bleierne Erschöpfung), Konzentrationsstörungen, veränderte Aufmerksamkeitsspannen oder Wortfindungsprobleme. Manchmal funktioniert alles wunderbar. Manchmal eben nicht. Beeinflussbar oder planbar ist das nicht. Man kann nur versuchen, damit sinnvoll umzugehen und die bevorstehende Aufgabe so gut wie möglich zu machen.

Diese kognitiven Schwankungen sind nach außen unsichtbar – aber sie prägen das Verhalten und vor allem: die Art, wie wir lernen und aufnehmen können. Und damit sind wir mitten im Thema.



Lernen geschieht nicht nur durch guten Inhalt, sondern durch gute Bedingungen. Und genau da liegt oft das Problem. 
Von außen sieht das oft nicht nach Konzentration aus. Eher nach Desinteresse. Verständlich – wenn man nicht weiß, mit was jemand unterwegs ist.

Aber genau deshalb braucht es Fingerspitzengefühl. Wer einen Workshop leitet, trägt Verantwortung – nicht nur für Inhalte, sondern auch für den Umgang miteinander. Selbst, wenn man die Hintergründe nicht kennt, ist es wichtig, solche Situationen nicht sofort zu bewerten. Ein inneres „Ich lasse das mal so stehen.“ Das reicht oft schon.

Oft ist das, was wie Desinteresse aussieht, ist in vielen Fällen schlicht ein anderer Weg, dabei zu bleiben. Was hilft, ist nicht Kontrolle, sondern Vertrauen. Was wirkt, ist Offenheit.

Was gar nicht hilft: Menschen vorzuführen – weder direkt noch durch die Blume.  
Nur weil jemand sich anders verhält als erwartet – vielleicht ruhig in die Luft schaut, sich etwas aufschreibt oder einfach für einen Moment nicht frontal präsent ist – heißt das nicht, dass diese Person nicht mitdenkt oder beteiligt ist.  Gerade wenn man nicht weiß, was jemand innerlich mitbringt, sollte Zurückhaltung das Mindeste sein.  
Denn oft stecken hinter dem, was nach Außen abweicht, sehr individuelle – und berechtigte – Strategien, um dabei zu bleiben.

Ich habe mir einige Tipps überlegt, die ich selbst aus meiner Erfahrung in meiner Arbeit als Referentin ziehen konnte. Learnings, die ich heute teilen möchte. Weil es eben manchmal anders ist als erwartet.

1. Menschen bringen (neuro)kognitive Realitäten mit – nicht nur Interesse


Tipp: Frage vorab, was die Teilnehmenden brauchen. Kognition ist individuell – MS, ADHS, Long Covid, Fatigue oder ein übervoller Alltag verändern, wie Menschen denken, aufnehmen, erinnern. Ein kurzer, freiwilliger Fragebogen kann helfen, das zu erfassen – am besten eingebettet in ganz normale organisatorische Dinge wie „Gibt es Allergien beim Essen? Brauchen Sie barrierefreien Zugang oder längere Pausen?“ Wer solche Fragen stellt, schafft nicht nur Struktur – sondern Raum für Menschen, nicht nur für Inhalte.

2. Nicht jeder Fokus sieht gleich aus


Tipp: Vertraue darauf, dass Aufmerksamkeit unterschiedliche Formen hat. Ich z. B. schaue manchmal aufs Handy oder kritzle nebenbei. Nicht, weil ich abschalte – sondern weil mein Gehirn sich sortieren muss. Andere schweifen mit dem Blick ab oder machen sich Notizen. Solche Mikrostrategien helfen vielen – nicht nur Menschen, die mit MS leben. Sie sollten erlaubt, nicht verboten werden.

3. Interaktion ist keine Kür – sie ist das eigentliche Lernen


Tipp: Baue echte Gespräche ein – nicht nur Fragen am Schluss. Ich setze in meinen Workshops bewusst auf Input *und* Austausch. Denn unser Gehirn liebt Dialog – und wer sprechen darf, fühlt sich beteiligt. Lernen ist ein sozialer Akt. Da hilft kein starrer Frontalmodus. Sondern Raum für Fragen, Lachen, Nachfragen.

4. Pausen sind Teil des Konzepts – nicht bloß Pinkelpausen


Tipp: Plane echte Erholung ein – auch für die Gedanken. Es geht nicht um kurze Biobreaks, sondern ums Sammeln. Ums Absinkenlassen. Wer erholt in den nächsten Block geht, versteht mehr, fühlt sich wohler – und bleibt dabei. Und: In diesen Momenten passiert oft Magisches. Die besten Gespräche, das Netzwerken, das Verstehen – es geschieht in Pausen.

5. Weniger Stoff = mehr Wirkung


Tipp: Reduziere Inhalte und schaffe Tiefe – nicht nur Dichte. Ich gestalte meine Formate so, dass auch Menschen, die mit MS leben oder mit Fatigue kämpfen, gut mitkommen – und alle anderen dankbar sind, dass ihr Kopf nicht brummt. Was nicht in den Workshop passt, kommt ins Zusatzmaterial. Punkt.

6. Notizen sind keine Altlast aus der Schule – sie sind Teil des Denkens


Tipp: Ermutige Mitschrift – auch wenn es Unterlagen gibt. „Ihr bekommt alles per Mail“ – das ist nett, aber nicht hilfreich. Denn was ich selbst aufschreibe, bleibt. Notizen strukturieren das Denken, filtern Wichtiges, verankern Gelerntes. Ich notiere viel – weil es mir hilft, nicht weil ich muss. Erlaube das. Es ist keine Ablenkung – es ist Verarbeitung.

7. Menschlichkeit ist Methode – kein Stilmittel


Tipp: Nähe, Leichtigkeit und Lachen helfen *allen* beim Lernen. Ich kenne beide Seiten: Menschen, die mit gesundheitlichen Einschränkungen leben. Und gesunde, hochkonzentrierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Aber was allen hilft, ist: eine warme Atmosphäre. Ein ehrlicher Blickkontakt. Ein Lächeln zwischendurch. Das schafft Verbindung. Und damit lernt es sich besser. Das ist keine „weichgespülte Didaktik“. Das ist wirksame Pädagogik.

Was gute Workshops wirklich ausmacht


Ein Workshop ist dann gut, wenn Gespräche entstehen. Wenn Atmosphäre entsteht. Wenn man dabei sein darf – auf eigene Weise. Wenn nicht beurteilt, sondern eingeladen wird. 

Wenn Schulmeisterlichkeit draußen bleibt – und Inspiration einzieht.

Gute Workshops haben Raum für Inhalt – und für Menschen.  
Dann bleibt am Ende nicht nur ein gutes Gefühl jetzt weiter zu können und die dazu gehörende Motivation. Es bleibt auch das Wissen das man sammeln konnte und, das Beste, Gemeinsamkeiten und Netzwerke, die greifen und oft über eine ganze Weile gemeinsam gehen. 

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