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Dieser Text ist aus einer aktuellen gesundheitspolitischen Debatte entstanden.
Er richtet sich zunächst an diejenigen, die über Strukturen, Prozesse und Prioritäten im Gesundheitssystem entscheiden.
Gleichzeitig beschreiben die angesprochenen Punkte sehr konkret den Alltag vieler Menschen mit chronischen oder langfristigen Erkrankungen: Versorgungshürden, Wartezeiten, Bürokratie, fehlende Transparenz – und die Frage, wo Einsparungen tatsächlich ansetzen sollten.
Deshalb veröffentliche ich den Text hier zusätzlich. Nicht als Kommentar zur Tagespolitik, sondern als Einordnung aus einer Perspektive, die in solchen Debatten häufig fehlt.
Da diese Fragen nicht nur national relevant sind, folgt unter der deutschen Version auch eine englische Fassung.
„Leistungen müssen entfallen“ – was diese Aussage des Kanzleramtsministers für Menschen mit chronischen Erkrankungen bedeutet.
In den vergangenen Tagen hat der Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) erklärt, dass im deutschen Gesundheitssystem Leistungen entfallen müssten. Ausgangspunkt ist unter anderem ein aktueller Beitrag im Spiegel, in dem das deutsche Gesundheitssystem als eines der teuersten der Welt beschrieben und daraus die Notwendigkeit von Kürzungen abgeleitet wird.
Diese Argumentation ist nicht neu. Seit Jahren steigen die Kosten im Gesundheitssystem, und seit ebenso vielen Jahren wird über Effizienz, Steuerung und Einsparungen diskutiert. Ein Umstand, der klar ist – der Reformdruck besteht nicht erst seit gestern. Neu ist jedoch die Deutlichkeit, mit der pauschal von Kürzungen gesprochen wird, ohne zu benennen, was das konkret für Menschen bedeutet, die dauerhaft auf medizinische Versorgung angewiesen sind.
Was in dieser Debatte bislang weitgehend fehlt, ist eine zentrale Perspektive: die der Menschen mit chronischen oder langfristigen Erkrankungen.
Gesundheit ist für chronisch erkrankte Menschen kein abstraktes Systemproblem
Für Menschen mit chronischen Erkrankungen ist das Gesundheitssystem kein theoretisches Steuerungsmodell und kein Kostenposten. Es ist Alltag: Organisation, Koordination, Verlässlichkeit – oft über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Dieser Alltag ist selten reibungslos. Er ist geprägt von ständigen Hindernissen, intransparenten Verfahren und Maßnahmen, die für Betroffene kaum nachvollziehbar sind. Kommunikation bleibt häufig unverständlich, Zuständigkeiten bleiben unklar, Entscheidungen wirken widersprüchlich.
Viele Patientinnen und Patienten erleben langwierige Diskussionen und Verhandlungen, um notwendige Heil- und Hilfsmittel zu erhalten – nicht selten bis hin zu Sozialgerichtsverfahren. Zeit, Energie und Kraft, die eigentlich für die eigene Gesundheit gebraucht würden, fließen in Bürokratie.
Auch der Zugang zur fachärztlichen Versorgung ist seit Langem problematisch. Termine erfordern oft Zeit und Geduld, insbesondere dann, wenn eine zeitnahe Diagnose notwendig ist. Kontinuität in der Versorgung ist keine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommen Lieferengpässe bei Medikamenten, Therapieunterbrechungen und kurzfristige Umstellungen, die für chronisch erkrankte Menschen direkte Auswirkungen auf Stabilität und Lebensqualität haben.
Viele kennen dieses System sehr genau – nicht aus politischer Distanz, sondern aus Erfahrung.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Aussage „Leistungen müssen entfallen“ nicht sachlich, sondern unvollständig. Sie blendet aus, wie fragil Versorgung für viele Betroffene bereits heute ist. Zugleich bleibt unsichtbar, wie viele Patientinnen und Patienten faktisch unterversorgt im Dunkeln sitzen, weil man sie nicht wahrnimmt.
Steuerung ersetzt keine Verfügbarkeit
In diesem Kontext wirkt der Vorschlag, den Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten stärker über die Allgemeinmedizin zu steuern, für viele Betroffene realitätsfern.
Was bedeutet das konkret, wenn Facharzttermine ohnehin schwer zu bekommen sind und Wartezeiten häufig Monate betragen? Was passiert, wenn eine zeitnahe Diagnose notwendig ist, um Therapien zu beginnen oder Verschlechterungen zu verhindern?
Die freie Arztwahl ist für viele Patientinnen und Patienten kein Luxus, sondern eine aktive Strategie, um Versorgung sicherzustellen. Sie erlaubt es, selbst Verantwortung zu übernehmen, parallel Termine zu suchen, Dringlichkeit einzuschätzen und handlungsfähig zu bleiben – oft sind es Netzwerke, die helfen. Schneidet man diese Kontakte ab, sinkt Versorgung. Ob das effizient und ökonomisch gedacht ist, bleibt offen.
Steuerung funktioniert nur dort, wo ausreichend Kapazitäten vorhanden sind – nicht dort, wo Geduld und Durchhaltevermögen bereits Teil der Versorgung geworden sind.
Vertrauen ist ein Effizienzfaktor
Viele Menschen mit chronischen Erkrankungen suchen sich bewusst eine Fachärztin oder einen Facharzt, bei dem sie langfristig bleiben möchten – oder bleiben können. Diese Kontinuität ist kein Komfort, sondern Grundlage für eine tragfähige Vertrauensbasis. Sie ermöglicht fundierte Empfehlungen, gemeinsame Entscheidungen über nächste Therapieschritte und eine realistische Einschätzung von Risiken und Nutzen.
Vertrauen wirkt sich konkret aus: auf Therapietreue, auf die Bereitschaft, Behandlungspläne mitzutragen, auf das frühzeitige Ansprechen von Problemen – und damit auf den weiteren Verlauf der Erkrankung. Auch ökonomisch ist das relevant. Stabile Arzt-Patienten-Beziehungen helfen, unnötige Wechsel, Doppeluntersuchungen, Fehlentscheidungen und Therapieabbrüche zu vermeiden. Sie unterstützen einen effizienteren Ressourceneinsatz.
Vertrauen ist ein Effizienzfaktor.
Effizienz heißt nicht automatisch weniger Leistung
Eines ist klar: Einsparungen werden notwendig sein. Die Frage ist jedoch, wo sie ansetzen.
Es ist keineswegs ausgemacht, dass Einsparungen primär zulasten der Versicherten gehen müssen. Bevor Leistungen gekürzt werden, lohnt ein genauer Blick auf interne Prozesse, Verwaltungsabläufe, Entscheidungszeiten und Zuständigkeiten.
Es gilt intern genauso unbequem zu werden wie nach extern.
Viele Verfahren im Gesundheitssystem sind komplex, langsam und wenig transparent. Entscheidungen ziehen sich, Zuständigkeiten verzweigen sich, Abläufe wiederholen sich. Das kostet Geld – und Vertrauen. Auch digitale Lösungen werden bislang oft so umgesetzt, dass sie nicht entlasten, sondern zusätzliche Hürden schaffen – intern wie extern. Ein Beispiel ist die elektronische Patientenakte: Der Login ist für viele Menschen kompliziert, umständlich und regelmäßig zu erneuern. Das kostet Zeit und Motivation. Viele geben auf mit dem Hinweis: zu kompliziert.
Das ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem. Digitale Anwendungen müssen vereinfachen. Tun sie das nicht, verpufft ihr Effizienzpotenzial.
Kürzungen treffen auch Ärztinnen und Ärzte
Kürzungen gehen nicht nur zulasten der Versicherten, sondern auch zulasten der Ärztinnen und Ärzte. Auch sie stehen unter wachsendem wirtschaftlichem Druck, müssen Leistungen abwägen, Zeit kalkulieren und Entscheidungen unter Sparvorgaben treffen.
Diese Entscheidungen wirken sich unmittelbar auf Gespräche, Diagnostik, Therapien und Begleitung aus. Was hier eingespart wird, fehlt oft im direkten Kontakt, in der Aufklärung und in der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Gleichzeitig wird politisch intensiv über Gesundheitskompetenz und Prävention gesprochen. Beides setzt Zeit, Vertrauen und stabile Strukturen voraus.
Wenn Kürzungen zuerst jene Gruppen treffen, die Gesundheitskompetenz ermöglichen und Prävention tragen sollen – Ärztinnen, Ärzte und Patientinnen gleichermaßen –, entsteht ein Widerspruch.
Gesundheitspolitik braucht mehr als Ankündigungen
Unpopuläre Entscheidungen können notwendig sein. Aber sie tragen nur dann, wenn sie transparent, datenbasiert und differenziert getroffen werden – und wenn klar ist, wer warum was trägt.
„Leistungen müssen entfallen“ ist kein Konzept. Es ist eine Aussage. Aussagen ersetzen keine Versorgungsstrategie. Und sie schaffen weder Verständnis noch Vertrauen.
Wenn wir über Kürzungen sprechen, müssen wir zugleich darüber sprechen,
welche Leistungen betroffen sind,
welche Alternativen geprüft wurden,
welche Prozesse vorher verändert wurden
und welche Gruppen die Folgen tragen.
Alles andere bleibt abstrakt – und wird der Komplexität von Versorgung nicht gerecht.
Einladung zum Gespräch
Dieser Text ist kein Schlusswort, sondern eine Einladung – zum Dialog und zur Diskussion. Mit allen – denn Kürzungen betreffen alle.
Es ist eine Diskussion die nicht nur über Kürzungen gehen wird, sondern über ihre konkreten Folgen. Nicht über Zahlen allein, sondern über Versorgung im Alltag. Nicht über Patienten, sondern mit ihnen – ebenso wie mit Ärztinnen und Ärzten, den Apothekerinnen und Apothekern und Bürgerinnen wie Bürgern.
Gesundheitspolitik braucht Entscheidungen. Aber sie braucht ebenso Dialog, Kontext und Verantwortungsbewusstsein.
Wer über Kürzungen spricht, sollte bereit sein, dieses Gespräch zu führen.
Quellen / Bezugspunkte / Sources - further readings
· Der Spiegel Thorsten Frei kündigt Kürzungen im Gesundheitssystem an https://www.spiegel.de/politik/gesundheit-thorsten-frei-kuendigt-kuerzungen-im-gesundheitssystem-an-a-7e242e59-2e58-4795-827c-ad291978e4cf
· Euronews (Deutsch) Thorsten Frei: Gesundheitssystem – Patienten müssen sich auf weniger Leistungen einstellen https://de.euronews.com/2025/12/25/thorsten-frei-gesundheitssystem
ENGLISH
This text was written in the context of a current health policy debate in Germany.
As the issues discussed are relevant beyond national borders, an English version is provided below.
Cutting Is Not a Strategy
“Some services will have to be cut” – what this statement by the Head of the Federal Chancellery means for people with chronic conditions
In recent days, Head of the Federal Chancellery Thorsten Frei (CDU) stated that certain services in the German healthcare system would have to be cut. One point of reference is a recent article in Der Spiegel, which describes the German healthcare system as one of the most expensive in the world and derives the need for cuts from this assessment.
This line of argument is not new. Healthcare costs have been rising for years, and discussions about efficiency, governance, and savings have accompanied this trend just as long. One thing is clear: the pressure to reform did not emerge overnight. What is new, however, is the bluntness with which cuts are being announced without clarifying what this actually means for people who depend on continuous medical care.
What is still largely missing from this debate is a central perspective: that of people living with chronic or long‑term conditions.
For people with chronic conditions, healthcare is not an abstract system problem. For people living with chronic conditions, the healthcare system is neither a theoretical governance model nor a budget line. It is everyday life: organisation, coordination, reliability – often over many years or even decades.
This everyday reality is rarely smooth. It is shaped by constant obstacles, opaque procedures, and measures that are difficult for those affected to understand. Communication is often unclear, responsibilities remain blurred, and decisions appear inconsistent.
Many patients experience lengthy discussions and negotiations in order to obtain necessary therapies, aids, or medical devices – not infrequently ending up in social courts. Time, energy, and strength that should be reserved for managing one’s health are instead consumed by bureaucracy. Access to specialist care has also been problematic for a long time. Appointments often require time and patience, especially when a timely diagnosis is essential. Continuity of care is by no means guaranteed.
Added to this are shortages of medicines, interruptions in therapy, and short‑notice changes, all of which have direct consequences for stability and quality of life for people with chronic conditions.
Many people know this system very well – not from a political distance, but from lived experience.
Against this backdrop, the statement “some services will have to be cut” does not come across as factual, but as incomplete. It ignores how fragile care already is for many people. At the same time, it remains invisible how many patients are effectively under‑supplied and left in the dark because they are simply not seen.
Gatekeeping does not replace availability
In this context, proposals to steer access to specialist care more strongly through general practitioners appear detached from reality for many affected people.
What does this mean in practice when specialist appointments are already hard to obtain and waiting times often stretch over months? What happens when a timely diagnosis is crucial in order to initiate treatment or prevent deterioration?
For many patients, free choice of doctor is not a luxury but an active strategy to secure care at all. It allows people to take responsibility, search for appointments in parallel, assess urgency, and remain capable of acting – often supported by personal or professional networks. If these connections are cut off, access to care declines. Whether this can truly be considered efficient or economically sound remains an open question.
Steering mechanisms only work where sufficient capacity exists – not where patience and endurance have already become part of everyday care.
Trust is an efficiency factor
Many people with chronic conditions deliberately choose a specialist with whom they want – or are able – to remain over the long term. This continuity is not about comfort. It forms the basis of a resilient relationship of trust. It enables well‑founded recommendations, shared decisions about next steps in treatment, and a realistic assessment of risks and benefits.
Trust has tangible effects: on adherence to therapy, on willingness to follow treatment plans, on addressing problems early – and thus on the course of the condition itself. From an economic perspective, this also matters. Stable doctor–patient relationships help avoid unnecessary changes, duplicate examinations, poor decisions, and therapy discontinuation. They support a more efficient use of resources.
Trust is an efficiency factor.
Efficiency does not automatically mean fewer services
One thing is clear: savings will be necessary. The crucial question is where they are made.
It is by no means a given that savings must primarily come at the expense of insured persons. Before cutting services, it is worth taking a close look at internal processes, administrative procedures, decision‑making timelines, and responsibilities.
It is necessary to be just as uncompromising internally as externally.
Many processes in the healthcare system are complex, slow, and insufficiently transparent. Decisions take too long, responsibilities branch out, workflows are repeated. This costs money – and trust.
Digital solutions, too, are often implemented in ways that fail to reduce burden and instead create additional barriers – internally and externally. One example is the electronic patient record: logging in is complicated for many people, cumbersome, and requires frequent renewal. This costs time and motivation. Many give up with the comment: too complicated.
This is not an individual failure, but a structural one. Digital applications must simplify. If they do not, their potential to increase efficiency simply evaporates.
Cuts also affect doctors
Cuts do not only burden insured persons; they also burden doctors. Physicians face increasing economic pressure, must weigh services, calculate time, and make decisions under cost constraints.
These decisions directly affect consultations, diagnostics, therapies, and follow‑up care. What is saved here is often lost in personal contact, patient education, and shared decision‑making.
At the same time, policymakers frequently emphasise health literacy and prevention. Both require time, trust, and stable structures.
If cuts first affect precisely those groups expected to enable health literacy and prevention – doctors and patients alike – a contradiction emerges.
Health policy needs more than announcements
Unpopular decisions may be necessary. But they only carry weight if they are made transparently, based on evidence, and in a differentiated manner – and if it is clear who bears which burden, and why.
“Some services will have to be cut” is not a strategy. It is a statement. Statements do not replace a coherent care strategy. Nor do they create understanding or trust.
If we talk about cuts, we must also talk about:
- which services are affected,
- which alternatives were considered,
- which processes were changed beforehand, and
- which groups ultimately bear the consequences.
Anything less remains abstract – and does not do justice to the complexity of healthcare.
An invitation to dialogue
This text is not a final word. It is an invitation – to dialogue and discussion. With everyone, because cuts affect everyone.
Not about cuts in the abstract, but about their concrete consequences.
Not about numbers alone, but about care in everyday life.
Not about patients, but with them – as well as with doctors, pharmacists, and citizens.
Health policy requires decisions. But it equally requires dialogue, context, and a sense of responsibility.
Anyone who speaks about cuts should be prepared to engage in this conversation.
Birgit Bauer 28.12.2025
#healthpolicy #healthcare #patientsinvolved

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