Dienstag, 9. April 2019

Verzicht ist keine Option ... oder disqualifiziert vom Leben!

Vor einiger Zeit las ich in einem der sozialen Netzwerke eine Frage, die mich zutiefst erschüttert hat. Sie machte mich auch richtig sauer und ärgerlich.

Die Frage war sinngemäß die: Auf was sollten Menschen mit MS verzichten? Wegen der MS. Es ging um Schwangerschaft und den Verzicht auf Kinder, um Anschaffungen wie ein Eigenheim und derlei. Es ging auch darum ob man überhaupt einen Job machen kann. Ob man überhaupt noch Risiken eingehen soll oder Abenteuer wagen oder Träume haben darf.

Woher diese Fragestellung kam? Von außen. Von solchen, die sich weder mit MS auskennen, noch einen Funken Empathie besitzen um zu erkennen, wie verletzend diese Fragen für Menschen mit MS sind.

Als ich die Diagnose erhielt, ging es mir ähnlich. Auch nach 14 Jahren erinnere ich mich an jede einzelne dieser Fragen.

Fragen, die mich als Mensch reduzierten, an den Rand stellten und mir gefühlt jedes Recht auf ein normales Leben absprachen. Diese Fragen machten mich zum Patient. Und zwar nur zum Patient. Ich fühlte mich wie eine Nummer.

Und man war erstaunt. Weil: "Patient Zwölfundreizig, Bauer, Birgit, gilt als renitent und weigert sich, den Status anzuerkennen und von Träumen, Wünschen und Vorhaben abzusehen". 

Ich meine, dass das dem Fräulein Trulla überhaupt nicht ins Konzept passte ist klar. Aber dass Menschen, die mir nahestanden, mir mein Recht auf ein vernünftiges Leben quasi aberkannten, das war neu. Es fühlte sich grausam an. Anstatt einfach da zu sein und zu verstehen, dass ich ja immer noch da war, klöppelte man mich mit Dingen und auch so typisch, kann man sagen, spießigen? Erwartungen zu. Patienten haben zu verzichten und leise zu sein.

Das alles hinterließ mich dermaßen durcheinander, dass ich mich selbst in Frage stellte.  Voller Selbstzweifel war und mein Selbstvertrauen fast komplett verlor. Eine besonders heftige Frage war, ob man mich entmündigen müsse, weil ich es ja am Hirn und an den Nerven habe. Eine der Fragen, die ich nicht vergessen kann.


Heute ist das anders. Wenn mir heute jemand mit diesen Fragen kommt, was ab und an passiert, reagiere ich gelassen und erkläre sehr klar in einem Vieraugengespräch, wie es läuft. Und was geht. Und ich kann sehr überzeugend werden. :-)
Was mich wirklich nervt ist die Einstellung dieser Menschen, sie disqualifizieren mich vom Leben. Und das geht gar nicht.

Geht es um Inklusion und Gleichheit, sind viele Leute offenbar nur inklusiv, solange man nur drüber redet. Wird es praktisch, also kommt  ein Mensch mit MS oder einer anderen Erkrankung und überlegt, ob es Zeit für die Familiengründung, den Jobwechsel oder die Anschaffung eines Eigenheimes ist, dann hört sich das schnell auf. In solchen Fällen wird der Mensch schnell zum Patient, die Disqualifikation naht.



Was in den Köpfen dieser Menschen vorgeht? Keine Ahnung.

Wenn jemand MS hat, ist diese Frau oder dieser Mann ein Mensch. Und nichts anderes. Dieser Mensch ist ganz zu Anfang hoch verunsichert. Es herrscht Chaos. Sie oder er muss lernen, mit MS zu leben. Das braucht eine Weile, was keine Frage sein sollte, Krankheiten verändern. Sie rauben einem ohnehin jede Menge und Verzicht ist ohnehin ein Thema, daher finde ich, das Recht auf Träume, Ziele oder Vorhaben muss man behalten.

Es gibt Momente, da ist Unterstützung nötig. Und auch wenn das so ist, so raubt einem die MS nicht alle Fähigkeiten. Und da ist er wieder, der Verzicht. Aber: es kann auch passieren, dass man neue dazu gewinnt. Bei mir war es beispielsweise Gelassenheit in verschiedenen Situationen in denen ich vor der MS schlicht zur Superzicke mutiert wäre. Allerdings wissen wir: Stress und MS und Ärger und MS tun nicht gut. Also wird sich später oder gar nicht aufgeregt. Was nicht immer klappt, aber immer öfter. ;-) Ab und an neige ich durchaus noch dazu, jemandem gepflegt meine Meinung zu erklären.



MS zu haben heißt nicht, völlig eingeschränkt zu sein. MS zu haben heißt nicht, dass man keinen Spaß mehr hat, nicht mehr genießen kann und keine Träume und Wünsche mehr hat. Es ist auch nicht verboten, mit MS Spaß zu haben oder eine gute Lebensqualität für sich zu schaffen.

Und schon gar nicht bedeutet Leben mit MS auf etwas verzichten zu müssen.

MS raubt uns viel, oft viel zu viel bei einigen von uns. Ja, und das ist beileibe oft genug verdammt schwierig.  Aber was sie uns nicht raubt, ist das Recht auf Wünsche, Träume oder Vorhaben und deren Verwirklichung. MS zu haben bedeutet nicht, als Patient versauern und ein bescheidenes Dasein fristen zu müssen. Was dem Fräulein Trulla ja gefallen würde, schön mit nem Spitzenkrägelchen auf dem Sofa, sittsam und brav, ohne Widerworte oder gar eigene Gedanken. Pfui!

Daher und das geht jetzt an Euch mit MS: Verzicht ist keine Option. Wenn Euch das einer einreden will, glaubt es nicht. Klar ist abwägen und informieren wichtig, aber nicht verzichten. Manchmal braucht es andere Lösungsansätze als das, was man gewöhnlich tut oder was man kennt. Übrigens auch was, was ich mit Trulla gelernt habe: Um die Ecke denken und zur Not einen Haken schlagen.

Lebt Euer Leben, richtet es Euch ein, dass es zu Euch passt, wenn Ihr Kinder wollt, kriegt sie, freut Euch über Nachwuchs, holt Euch gute Ärzte an Bord und informiert euch gut und dann: zieht es durch. Versucht es zumindest.

Aber wegen der MS auf etwas zu verzichten, weil es vielleicht schief gehen könnte, weil ein Schub alles zerstören könnte, weil was sein könnte, wenn etwas passiert, wegen der MS? Nö.
Der Konjunktiv 2 existiert für mich lange nicht mehr.

Also Ihr Zweifler und Unken da draußen: Verunsichert nicht, unterstützt Menschen mit MS und andere Menschen mit  Erkrankungen. Sie haben Power und wenn ich eins gelernt hab, dann dass diese Menschen mehr Power haben als mancher Gesunde wenn sie ein Ziel haben und sie erreichen diese Ziele. Und informiert Euch über MS bevor Ihr was sagt. Alles andere ist auch hier: Keine Option.

Was macht Ihr so?

Liebe Grüße

Birgit


Text: Birgit Bauer
Bilder: Pixabay.com


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