Diese Frage las ich schon vor einiger Zeit irgendwo in diesen virtuellen Welten. Und sie hat mich echt beschäftigt.
Bist du der, der du immer sein wolltest?
Bei mir kam dann die Frage auf, was ich sein wollte, als ich jünger war.
Die große Frage für mich war: Kann ich die sein, die ich immer sein wollte? So nach der MS Diagnose und vielen anderen Ereignissen? Schwer zu beantworten oder?
Vor einigen Wochen hatte ich Geburtstag, wie jedes Jahr. Ehrlich gesagt, habe ich mit dem Alter und dem Umstand, dass ich älter werde kein Problem. Alter ist für mich eine Zahl. Mir ist wichtiger, wie ich mich fühle, was ich denke und wie ich mich in dieser rasanten Welt bewegen kann. Geistig meine ich. Stetig lernend und immer auf der Spur des Wissens.
Aber die Frage, ob ich die bin, die ich werden wollte, kann ich so einfach nicht beantworten.
Vor der MS war mein Leben total anders. Ich hatte das Herzblatt und einige, wenige Dinge im Leben, die bis heute eine Konstante darstellen. Aber die MS hat alles verändert. Sie hat mich verändert. Sie hat Menschen aus meinem Leben befördert, die nicht klar kamen und ein dickes Problem mit der MS haben, sie hat aber auch Leute in mein Leben gebracht, die echt richtig gut sind. Vor der MS träumte ich mehr. Nach der Diagnose wurde ich realistisch. Ich realisiere. Wenn ich etwas möchte, mir ein Ziel setze, überlege ich mir wie ich es realisieren kann. Klar verliere ich ab und an, schaffe die eine oder andere Sache nicht so einfach, aber das tut meinem Tatendrang keinen Abbruch, dann suche ich neue Wege. Oder versuche eine Umleitung zu finden.
Allerdings habe ich auch andere Prioritäten gesetzt, was meine Lebensgestaltung betrifft. Und fragt man mich heute, kann ich sagen, jep, ich bin die die ich immer sein wollte. Nach der MS.
Nach der MS ist vor dem Leben. Und man muss lernen, täglich. Es wird jetzt einige geben, die würden mir am liebsten eins reinboxen, die werden mich verurteilen weil ich gleich etwas sage, was für viele ein bisschen wie ein rotes Tuch ist:
Die MS verändert nicht nur alles ins Negative. Es gibt auch gute Wege und Seiten. Man muss sich vielleicht ab und an mehr Mühe geben, sie zu sehen, aber sie sind da.
Als ich das Fräulein Trulla in Empfang nehmen musste war alles doof und schlecht und scheußlich. Klar. Unheilbar krank zu sein ist eine gruselige Vorstellung. Es hat auch eine Menge Disziplin und Kraft erfordert so zu werden wie ich heute bin, aber es hat sich gelohnt.
Ich habe etwas gelernt, was ich sehr mag an mir: Ich vertraue mir selbst. Erkannte, was ich eigentlich auf dem Kasten habe. Vorher unterschätzte ich mich oft, heute vertraue ich auf mich und meine Intuition.
Irgendwann sagte ein weiser Mensch zu mir, ich solle meine Flügel ausbreiten und fliegen, weil ich die MS nicht zum Fliegen bräuchte. "Du kannst das Fräulein Trulla am Boden zurücklassen", meinte diese Person schmunzelnd und ich musste mitlachen. Die Vorstellung, dass das olle Fräulein am Boden bleiben müsste, während ich quasi anfing fliegend meiner Route zu folgen, amüsierte mich, wo sie doch die orthopädisch wertvollen Schuhe in den Boden rammen und mit zitterndem Spitzenkrägelchen die ordentlich ondulierte Frisur durcheinander bringen würde.
Und als ich das erste Mal los flog, war das ziemlich wackelig mit Gefahr zum Sturzflug, aber es ging gut und ich merkte auch, wie mutig ich war. So setzt sich das fort. Bis heute. Ich habe mir einige Male gepflegt ins Hemd gemacht, das kann ich Euch sagen. Ich habe mir auch blaue Flecken geholt und oft genug eine blutige Nase. Aber was passierte war, dass ich weiter machte. Weil ich mir von einer Erkrankung nicht die Butter vom Brot klauen lassen wollte und will.
Ich lernte eine Menge über Selbstdisziplin und darüber, dass man mehr Kraft hat, als man denkt. Nur man muss verstehen, diese anzutasten, zu nutzen. Etwas, das man sich oft nicht traut, weil man dazu lernt selbstbewusst zu sein und für sich einzutreten und das gefällt nicht jedem. Ich habe mir oft meinen absoluten "Lieblingssatz" (Nicht!!!) anhören dürfen: "Das gehört sich doch nicht!" Es kam immer dann, wenn ich einen Schritt machte, der nicht in das eher angepasste Leben der Menschen um mich herum passte. Aber was für andere passt, muss noch lange nicht für mich passen. Weil mein Leben eben auch anders ist und läuft.
Ich lernte eine Menge über Konsequenz und wie einem Konsequenz nutzt. Beispielsweise wenn es darum ging, auch Dinge zu verfolgen, weil mir klar war, dass sie mir gut tun. Diese "Superkraft" ist heute eine, die ich im Leben nicht mehr missen will. Besonders seit ich älter werde.
Mir fehlt die Zeit für ewige Diskussionen um überhaupt etwas zu entscheiden und durchzuziehen. Nicht nur wegen der MS, sondern allgemein, wegen der Zahl in meinem Ausweis. :-) Was nicht heißen soll, dass ich mir nicht gut überlege was ich mache. Natürlich wäge ich ab, sehe mir alle Faktoren an, aber ich kann entscheiden und dann dazu stehen. Ich kann auch nicht leiden, etwas mehrfach so lange mit einer Diskussion zu quälen bis das Thema quasi leblos und ausgelutscht in der Ecke hängt.
Fragt man mich, ob ich Angst habe, klar. Ab und an habe ich gewaltig Schiss, aber ich lasse mich nicht von Menschen ins Bockshorn jagen, die glauben, sie könnten mich mit aufgeplustertem Gefieder beeindrucken. Ich plustere zurück und habe gelernt, abzuwarten. Man sieht sich immer zweimal im Leben ...
Irgendwann nach einem Jahr MS habe ich mir überlegt, was werden könnte. In einer stillen Stunde grübelte ich und überlegte mich tatsächlich, was oder wer ich sein könnte. Ich wollte mutig sein, auf mich selbst vertrauend, konsequent. Etwas mehr Disziplin wollte ich haben, ich wollte selbst bewusst und achtsam mit mir umgehen (schaffe ich meistens sehr gut) und mir war klar, dass mein Takt anders sein würde als der meiner Mitmenschen. Ich habe mir damals ausgemalt, was ich sein könnte und habe mich ausgelacht. Aber auch den Plan verfolgt, den ich gemacht habe. Mit der einen oder anderen Kurve oder Änderung.
Ob ich heute 100% das bin, was ich mir damals ausgemalt habe?
Ehrlich, ich glaube immer noch nicht. Aber ich glaube, dass das ohnehin nicht geht, die Welt verändert sich, das Fräulein Trulla verändert sich und damit ist das Leben immer in Bewegung. Ich verändere mich. Ich erlebe so viele Dinge, habe die Möglichkeit, viel zu lernen, bin als Blogger, Journalistin oder Speaker aber auch häufig als Patient Activist und Advocate unterwegs, bin im Austausch mit vielen Menschen, da kann 100% nicht stattfinden. Weil ständig Bewegung drin ist.
Was aber passiert ist, sind zwei wichtige Sachen: Ich will Lebensqualität und ein zufriedenes Leben. Trotz oder wegen Fräulein Trulla? Weiß ich gar nicht so genau, aber ich glaube, muss ich auch nicht, weil das etwas ist, was jeder möchte.
Ich habe mit ihr gelernt, auf die kleinen Dinge zu achten und groß zu denken. Pläne zu machen und zu haben finde ich wichtiger denn je. Sie geben mir die Zeiträume für Achtsamkeit für mich selbst.
Ich mag mich, auch mit MS. Weil MS mich eben nur zum Teil ausmacht, zu einem sehr kleinen Teil. Fräulein Trulla muss sich mit der kleinsten Statistenrolle zufrieden geben. Fertig.
Und der Rest, der bin ich. Und ich bin zufrieden damit.
Und Ihr so?
Birgit
Sonnenblume Bild von Casey Pilley auf Pixabay
Umleitung Bild von Reginal auf Pixabay
Ara Bild von Ralf Kunze auf Pixabay
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