Dienstag, 3. Dezember 2019

Das gehört sich aber nicht! Oder das mit der Norm.

Es gibt einen Satz, den kann ich nicht leiden. Konnte ich nie, auch vor der Diagnose nicht. Und als ich ihn letztens mal wieder hörte, konnte ich nicht umhin, mich damit auseinander zu setzen.

"Das gehört sich nicht!" oder "Das gehört sich jetzt aber!"


Dieser Satz ist eine Maßregelung an sich. Eine Frechheit, die aber gerne von Erwachsenen dann vergeben wird, wenn andere das, was sich gehört, eben nicht so sehen. Quasi der Versuch, jemanden zu erziehen. Mit erhobenem Zeigefinger versteht sich. ;-)

Dieser Satz sagt einem, dass man etwas tun soll, was man meistens nicht tun möchte. Oder anders macht.  Aber wenn sich etwas gehört,  entspricht das der Norm. Der gesellschaftlichen, den Konventionen, die gerne aufgestellt werden. Weil es so schön konform ist. Und das Fräulein Trulla liebt diese Konventionen ja sehr, sie begrüßt das außerordentlich. Nun ...

Schon als Kind hört man es regelmäßig. Die Ode an das, was sich gehört und was nicht. Stopf nicht, sei nicht vorlaut, weil sich das nicht gehört und sag immer Danke und Bitte. Weil sich das dann schon gehört. Es gehört sich auch nicht, die eigene Meinung zu vertreten. Als Teenager, weil man sich doch in der Welt nicht auskennt, hörte ich oft. Und es gehört sich auch, dass man sittsam und brav bleibt, anstatt einen Freund zu haben. Was sich nicht gehört. Es gehört sich auch, für andere, die man eigentlich überhaupt nicht leiden kann, etwas zu tun. Weil alle es tun. Und es gehört sich nicht, Nein zu jemand zu sagen, auch wenn man merkt, dass man die Kraft nicht hat, das zu tun, was von einem erwartet wird. Man muss auch Menschen besuchen, die man überhaupt nie leiden konnte und nie leiden können wird, weil sich das gehört. Es gehört sich auch nicht, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Weil das egoistisch ist.

Gut, ein bisschen überspitzt, aber nicht fern der Realität.

Wann habt ihr das letzte Mal wirklich etwas getan, weil es sich eben gehört? Weil man es eben so macht. Obwohl es nicht eurer Auffassung oder eurer Situation entsprach? Oder auch eurem Bedürfnis als Mensch, der mit MS lebt?

Ehrlich gesagt, wenn man mir sagen will, was sich gehört oder was nicht, gehe ich in den Revolutionsmodus. Weil das was sich gehört, selten zu dem passt, von dem ich glaube, dass es für mich ok ist.

Wobei ich nicht behaupte, dass "Das gehört sich nicht" gänzlich missachtet werden sollte. Es gibt Dinge, die gehören sich tatsächlich, die macht man, weil sie das Leben vielleicht einfacher machen oder weil man jemandem einen Gefallen tut oder auch weil es Anstand und Höflichkeit ausstrahlt, Wertschätzung übermittelt und eine gleiche Augenhöhe zulässt.

Aber für alles und um jeden Preis? Zwecks der Beliebtheit oder gar der "Das gehört sich" Komfortzone? 

Gerade nach der Diagnose trieben mich mir nahe Menschen sehr oft an mein Limit. Ich ließ es mir gefallen. Zunächst. Allerdings ging das nicht lange gut, ich erkannte, dass mir diese Erwartungshaltung in Sachen "Leben mit MS" überhaupt nicht passte. Ich sollte eine brave Patientin sein. Einige in meiner sehr nahen Umgebung wollten sich eher mit mir in meinem Elend suhlen, ich sollte schön auf dem Sofa sitzen und abwarten. Und Ruhe geben. Weil sich das als Patient so gehört.

Aber, ey, sorry, das entsprach nicht dem, was ich vom Leben erwartete. Für viele aber gehörte es sich nicht, dass ich mir mein Leben neu aufbaute und damit natürlich auch meine Ansprüche änderte und Erwartungen nicht erfüllte. Umdachte und bewusst darauf achtete, dass das was ich tat in mein neues Leben passte.
Das waren harte Diskussionen, viel Ignoranz und oft viel Kraft und Energie, die ich aufbringen musste, um diesem "Das gehört sich" Komfort, den man eben auch bekommt, wenn man tut, was sich gehört, zu widerstehen. Machste was sich gehört, sind sie alle nett zu dir. ;-)

Das Ding ist nur, es wäre ein Leben gewesen, das mir nicht entspräche. Mir und den Bedürfnissen des Leben mit MS



Weil es mein Leben ist. Meine Bedürfnisse in Sachen MS betrachten "Das gehört sich" als
überbewertet und fragen mich am Ende auch nicht, ob es ok ist, wenn ich erwartungskonform mal wieder über die Grenze latsche. Im Gegenteil, sie lassen mir deutlich die Botschaft zukommen, dass sich das eben wieder nicht gehört hätte. Im Sinne meiner Bedürfnisse eben.

Gehören tue ich mir. Nicht anderen und deren Erwartungen. Ich muss mein Leben leben. Die MS bedingt oft, dass ich etwas nicht tun kann. Damit entspreche ich schon nicht mehr den Erwartungen. Aber was soll ich tun? Wenn ich Symptome habe, trotzdem aktiv werden anstatt mich auszuruhen? Weil es sich gehört, nicht abzusagen? Ein Essen ausfallen lassen, weil ich vor Fatigue nicht gerade gehen kann, weil ich so müde bin? Weil es sich gehört, zu kommen, koste es was es wolle?

MS ist ein Denkveränderer 

Die MS hat die Denke in meinem Kopf da gehörig umgedreht und das, was ich vor der Diagnose wußte, nämlich dass zuerst ich mir selbst gut tun muss und meine eigene Definition von "Das gehört sich" entwickeln muss um ein gutes und vernünftiges Leben zu habe. Auch wenn es ab und an gehörig gegen die Erwartungen meiner Umgebung geht.

Dass es bei der viel erwähnten persönlichen Freiheit, die sich jeder wünscht, auch darum geht, zu sich selbst und zu den eigenen Bedürfnissen und Wünschen wie Erwartungen zu stehen, auch wenn es andere als Egotrip bezeichnen.

Aber so gesehen: Es gehört sich nicht, an den Ansprüchen anderer herum zu meckern und zu versuchen, diese Menschen umzuerziehen. Es gehört sich, andere zu akzeptieren so wie sie sind, auch wenn sie nicht gängigen Konventionen oder Regeln entsprechen und nicht immer Erwartungen erfüllen. Aus Gründen.

Birgit





Text: Birgit Bauer
Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay
Bild von John Hain auf Pixabay
Bild von John Hain auf Pixabay

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen