Dienstag, 18. August 2020

Für sich selbst einstehen ... Über Klartext!

Es gibt diesen einen Moment im Leben, der wenig angenehm ist. Der Moment, in dem dich ein Arzt zum Patienten erklärt. 

Von da an bist du ein Mensch mit einer chronischen Erkrankung. Deine Leben verändert sich total. 

Du  darfst dich damit auseinandersetzen, wie dein Leben in Zukunft aussehen soll. Auf einmal sprichst du über eine  Erkrankung,  über Rechte, die man als Patient hat, Pflichten, Therapien und generell: das Leben. 

Das ist nicht einfach, gerade am Anfang war das so eine Sache. Das, was vor der Diagnose irgendwie ging, geht nicht mehr, weil die MS zugeschlagen hat und du eingeschränkt bist, dein Körper nicht mehr funktioniert. 

Man ist verwirrt und muss viel lernen. Vor einer Weile hat mir jemand in einer Diskussion über Corona erklärt, ich müsse lernen, für mich einzustehen und meine Bedürfnisse formulieren, klar, deutlich. Ich könne auch um etwas bitten. Nun ... ich erklär das jetzt mal. Ich versuche es zumindest. 

Das erste, was man ganz schnell lernen muss, sobald man sich "Patient" auf den Latz schreiben kann ist für sich einzustehen und Bedürfnisse klar zu formulieren. Das ist für viele von uns eine Herausforderung und für mich war es das auch. Klar. 


Als ich vor mehr als 15 Jahren die Diagnose "Multiple Sklerose" bekam, stand ich, wie viele andere bis heute auch, vor einem Chaos. Unwissend, uninformiert und ratlos. Ich bekam von Ärzten gesagt, was jetzt zu tun wäre und sollte Entscheidungen treffen, die ich nicht treffen konnte. Ich hatte ja keine Ahnung von dem, was da auf mich zukam. Genau in dem Moment stand ich das erste Mal für mich ein. Unbewusst, zugegeben, aber ich machte den Ärzten klar, dass ich nichts entscheide, solange ich nicht weiß, was Leben mit MS bedeutet. Ich formulierte das Bedürfnis nach mehr Information ziemlich klar, pragmatisch niederbayrisch wie ich eben bin. Ich erklärte auch klar, dass ich nicht gewillt wäre, einem ärztlichen Rat zu folgen, wenn mir der Mediziner nicht mal verständlich erklären kann, was das, was er mir sagt bedeutet.

Ich kann mich noch gut an das entsetzte Gesicht des Arztes erinnern, als ich das von mir gab. Es war pures Entsetzen über die renitente Frau vor ihm, die zum ersten Mal in ihrem Leben einem Mensch im weißen Kittel widersprach. Das war der Moment in dem mir auch klar wurde, dass ich wohl in der Zukunft mehr als einmal meine Bedürfnisse klar formulieren müsste, um das zu bekommen, was mir wichtig war und was ich für nötig empfand. So gesehen: eine verdammt harte Sache und etwas, das schwierig ist. Gerade am Anfang. 

Tag X = Neuanfang in Sachen Bedürfnisse formulieren .... 

Vor der MS war ich ein halt angepasst, tat oft das, was man halt so von mir erwartete. Ob es mir gut tat oder nicht, das stellte ich für diesen Moment nicht in Frage. Ich hielt es aus. 

Bis Tag X. An dem hier das Fräulein Trulla einzog. Von jetzt auf gleich war mein Leben anders und das wiederum verlangte eine dauerhafte Veränderungen meinerseits. Zuerst rannte ich gegen Mauern, behördliche, ärztliche und auch private. 

Ich holte mir den einen oder anderen blauen Fleck, verlor Menschen auf diesem Weg, von denen ich nie geglaubt hätte, dass sie nicht mit meiner MS nicht umgehen konnten, aber ich gab nicht auf. Mir war schnell klar geworden, dass ich für mich einstehen muss, dass es einer klaren Nennung des Bedarfs gab, damit er erfüllt wurde. 

Nicht bitten, sondern klar bleiben. Das war auch ein Grund, warum mich "Du darfst mich gerne bitten ... " so auf die Palme gebracht hat. Das fühlte sich in dem Moment an, als würde ich um ein Almosen bitten, eine gnädige Gabe für die arme Kranke. Nicht. Gut. 

Auch wenn es möglicherweise ganz anders, wahrscheinlich nur zu gut gemeint war. Aber in diesem Moment und in diesem Ton war es schlicht unnütz und falsch adressiert.


Was hab ich getan, um klar zu werden? 

Eine meiner ersten Aktionen nach der Diagnose war eine Psychologin aufzusuchen und genau an diesem Umstand zu arbeiten. Das half mir und ich wurde über die Jahre für den einen oder anderen Arzt, Physiotherapeuten etc. zur unbequemen Person. Weil ich fragte, diskutierte und nicht alles als gegeben hinnahm. Das gilt auch für Mitmenschen. Ich folgte meiner Richtung, nicht der die andere von mir erwarteten. Es war teilweise schwierig, aber auch amüsant bei manchen Mitmenschen. 

Wenn man mit MS lebt, lebt man auch mit dem Umstand, spontan eher Nein zu sagen als spontan an etwas teilzunehmen. Weil der Tag es nicht hergibt, die Kraft nicht da ist und man eher in Ruhestellung bleibt. Auch wenn andere sagen, es sei nur ein gemütlicher Stammtisch, kann das für unsereins schon mal anstrengend und auch überfordernd werden. Meistens zahlt man dafür einen hohen Preis, wenn man es doch tut. Fatigue (Erschöpfung) , Symptome (Schmerzen, Missempfindungen ...)etc. 

 Es ist ein Lernprozess, der parallel läuft. Im Körper und in der Psyche. Es dauert ein bisschen, bis man das raus hat, aber es hilft, wenn man daran arbeitet. Und es endet nicht. Denn die MS verändert sich über die Jahre und deshalb geht man mit. Weil sich der Bedarf ändert. 

Keine Zeit für höfliches Konjunktivgeschwurbsel ... 

Allerdings mache ich eines nicht mehr: Um etwas zu bitten.  Wer ist schon gerne Bittsteller? Auf das läuft es nämlich hinaus. Wenn man um etwas bittet kann das durchaus nicht die Richtung sein, die nötig ist, um etwas zu bewegen. Es ist ein Unterschied wenn ich sage: 

"Ich möchte Sie bitten dies oder jenes zu machen ...." und dann noch geschmackvoll mit "könnte" ausschmücke oder ob ich klar sage: "Ich brauche das jetzt so oder so" Ein höfliches Bitte ist immer dabei, aber der Bedarf liegt dann auf dem Tisch. Ohne geschwurbeltes Gedöns. 

Gerne erkläre ich noch kurz warum aber dann ist es auch gut. Ich bin dabei nicht unfreundlich, aber mir fehlt oft schlicht die Zeit oder die Kraft jemanden blümerant dazu zu bewegen, etwas für mich zu tun. Und wenn jemand gebeten werden will, das habe ich gelernt, braucht es oft ein bisschen "Schleimen". Abgesehen davon, dass ich sowieso kein Schleimer bin. War ich nie. 

Es ist der pure Bedarf, den eine Erkrankung oft nötig macht ... und Teilhabe ... 

Wir reden über puren Bedarf. Das was da benannt wird, ist kein nettes Gadget. So just for fun. Es ist ein Bedarf, der aufgrund eines Umstand, der von einer Erkrankung her rührt, erfüllt werden muss. 

Ohne einer Diskussion oder dem Einfordern einer nett formulierten Bitte. Da ist Menschlichkeit gefragt, Rücksicht, denn das ist auch das Ermöglichen von Teilhabe. Am Leben da draußen zum Beispiel, was für viele Patienten derzeit ohnehin nicht einfach ist. 

Da hilft es schon, wenn man einfach die geltenden Regeln in Sachen Corona umsetzt und sich eine Maske dort aufsetzt, wo es gesetzlich gefordert ist. Ohne Diskussion. (Und ja der musste jetzt sein! Das ist auch ein Bedarf, nämlich der vieler Menschen, die mit chronischen Erkrankungen und damit einem erhöhtem Risiko leben und derzeit ohnehin nur beschränkten Spielraum haben, damit sie sich nicht anstecken.) Wer nachlesen will klickt! 

Um etwas bitten, kann sich gerade, wenn man ständig für sich einstehen muss weil man chronisch krank ist, schon ab und an seltsam anfühlen. Weil das, um das man bittet, für das Gegenüber aufgrund der Bekanntheit der Umstände einfach selbstverständlich sein könnte. Oder sollte? Wer weiß ... 

Aus der Perspektive von Gesunden ist eine Bitte oft kein Thema. Ist man chronisch krank, kann sich das ins Negative umkehren. Weil man so oft Diskussionen führen muss, die es eigentlich nicht bräuchte, weil es oft nötig ist, Papiere, Bestätigungen etc. beizubringen um z.B besser informiert zu sein oder herauszufinden, wie der Weg bis zur Lösung ist. 

Weil das alles Zeit und Energie raubt, Kraft braucht und oft genug passiert es einem, dass das nicht da ist. Dann kann man nur noch eine einfache Formulierung abgeben, um etwas zu bitten, dafür fehlt einem dann die Kraft und ab und an auch die Geduld. 

So ne chronische Erkrankung wie die MS kann nämlich ziemlich anstrengend sein. Auch wenn man es nicht immer wahrnimmt oder sieht. Aber wer mit MS lebt kennt die unsichtbaren Symptome und weiß, wieviel Kraft es kostet, damit zu leben. Daher: Klartext anstatt einer Bitte. Man muss ja keine Befehle erteilen. ;-) 

Aber darüber reden wir ein anderes mal. 

Habt einen guten Tag! 

Liebe Grüße

Birgit 



Foto von Ricardo Esquivel von Pexels 
Bild von Christine Schmidt auf Pixabay 

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