Mittwoch, 13. April 2022

Über vulnerable Gruppen, Verständnis, meinen Blutdruck und warum ich auch gerne abtanzen würde!

Für alle mit niedrigem Blutdruck oder Mangel an Schwung, der Artikel aus der FAZ vom 08.04.2022 könnte das ändern:  https://www.faz.net/aktuell/stil/leib-seele/warum-ich-trotz-gefahr-keine-maske-mehr-trage-17944976.html?GEPC=s3#void

Es geht im Großen und Ganzen um eines: Den Fall der Masken, die heldenhafte Verkündung einer jungen Frau, die ohne Maske konsequent in den Supermarkt geht und das feiert, die feiern möchte, die Spaß braucht und überhaupt ihr altes Leben zurück will und dafür um Verständnis der so genannten vulnerablen Gruppe wirbt. 

Dröseln wir also auf und um es gleich zu sagen, Verständnis wird eine große Rolle im nachfolgenden Text spielen. 

Ehrlich, mein Verständnis ist groß. Was mussten wir auch verzichten oder? Alles hat uns dieses fiese Virus geraubt. Es war eine Katastrophe und das meine ich ernst. Wie sehr habe ich das Kino vermisst, eine gute Party oder im Sommer die Open-Air Konzerte in meiner Stadt. Ich hätte gerne auf dem Weihnachtsmarkt genossen und im Bierzelt auf unserem jährlichen Jahrmarkt mit gegrölt. Nix wars.


In besagtem Artikel erklärt die Verfasserin durchaus eindrucksvoll wie sie sich und ihre Freiheit jetzt feiert. Eine lange Liste, die mit "Ich" begann und mit "Ich" endet. Und konsequent ohne Maske einkaufen zu gehen, schien eine Heldentat zu sein. Ehrlich gesagt, ich war beeindruckt von der "Ich" - Nummer, die da zu Papier gebracht wurde. 

Das Coronavirus hat uns alle auf eine harte Probe gestellt. Es war für niemanden einfach. Dafür habe ich Verständnis. Ich habe auch voll krass Verständnis, dass wir alle schnell raus wollen, in unser altes Leben zurück, wie die Dame schreibt. 

Allerdings frage ich mich, ob das alte Leben noch da ist. Es dürfte nicht auf uns gewartet haben. Die Welt hat sich weiter gedreht und das Alte liegt zurück. Das bedeutet auch, wir müssen uns an einen Neustart wagen. Dass das nicht einfach ist, dafür habe ich auch Verständnis. 

Ich habe viel Verständnis. Ich lagere es in meinem imaginären Keller. In Dosen. Gerne öffne ich eine Dose wenns passt.

Wo ich aber knausere ist zum Beispiel das Ding mit der Maske. Klar, angenehm war und ist anders, aber war und ist es wirklich so schlimm? Ich konnte meine Meinung dennoch äußern und die 30 Minuten im Supermarkt haben mich nicht wirklich so tangiert. Die Maske hat mich auch nicht daran gehindert, mein Leben dennoch so gut wie möglich zu genießen. Im Rahmen der Möglichkeiten und meiner Erkrankung hatte ich durchaus auch gute Zeiten in der Pandemie und konnte es aushalten. 

Ob es an der MS liegt? Wahrscheinlich. Damit lebt man anders und muss generell viel öfter verzichten als Gesunde. Es gibt diese Tage, an denen kann man nicht. Dann übernimmt die MS und diktiert was geht und was nicht, was meistens viel mehr ist als das, was geht. Gut, man trägt vielleicht dann keine Maske, zumindest nicht bei MS, aber man muss verzichten. Auf das pralle und unbekümmerte Leben. Den Spaß.

Mit MS gehöre ich damit zu den vulnerablen Gruppen. Obwohl ich gar nicht so alt bin. Der Begriff sagt letztlich aus, dass jemand angreifbarer, verletzlicher ist. Egal wie alt eine Person am Ende ist. Allerdings wurde das nicht gut kommuniziert, ist mein Eindruck. In der Pandemie wurde er vom Robert Koch Institut oft genutzt, um die Wichtigkeit von Impfungen etc. zu untermauern und darauf hinzuweisen. Unglücklicherweise wurde oft nur am Rande erklärt, dass es sich bei vulnerablen Gruppen nicht nur um Senioren handelt, sondern um alle Menschen, die eine Vorerkrankung oder generell eine chronische Erkrankung haben. Das heißt, jedes Alter ist betroffen.  Immerhin jeder zweite Deutsche ist chronisch krank. Das müssen wir im Hinterkopf haben. 

Zitat: ".... Klar gibt es vulnerable Gruppen. Aber die werden sicher Verständnis haben, dass die Nicht-Vulnerablen jetzt auch mal wieder an sich denken, jedenfalls innerhalb eines gewissen Rahmens. Die Politik zumindest hat verstanden, dass sie in Zeiten von Omikron und den Möglichkeiten selbst einer vierten Impfung nicht ewig die Interessen einer Minderheit über die einer Mehrheit stellen kann" 

Habe ich Verständnis für die Dame? Nein. 

Nochmal: Vulnerable Gruppen sind Menschen wie Du und ich, denen man ihr Problem nicht immer ansieht, die es aber haben. #butyoudontlooksick

Wir, die wir chronisch krank sind, wissen Bescheid, wie wichtig Verständnis ist. Wir erfahren täglich am eigenen Körper, im eigenen Leben wie verwundbar wir sind. Dass man dafür Verständnis kriegt, ist oft schwierig, es steht einer kleinen Portion Verständnis ein immenser Erklärungsbedarf gegenüber, der Kraft fordert die oft nicht da ist. Wir sind auch bereit es zu geben. Und oft ist der Anteil, den wir geben wesentlich höher als das, was wir zurückkriegen. Weil Verständnis bisweilen durchaus unbequem sein kann. Und wer man schon Unbequemes? 

Es liegt am Bewusstsein derer, die sich mit dem Thema noch nie auseinander gesetzt haben, die sich nicht vorstellen können, wie das mit der Sache rund ums Verständnis ist, wenn man wirklich krank ist. So wie die Autorin wahrscheinlich, die dahingehend möglicherweise noch einen Krümel Verständnis und jede Menge Wissen abbekommen könnte. 

Und doch fällt es mir schwer. Weil wir hier über Mitverantwortung reden. Für Menschen, die täglich mit einer chronischen Erkrankung leben, sich bis dato und wahrscheinlich weiterhin schützen müssen. 

Wir reden sehr oft über Menschen, die bis heute isoliert leben, während die anderen sich die Maske aus dem Gesicht reißen und sich selbst feiern. 

Zitat: "Es wird Zeit, dass wir mutiger werden und aus unseren Schneckenhäusern kommen!" 

Ja, klar gerne! Nichts lieber als das! Viele Menschen mit chronischen Erkrankungen würden so gerne, können aber halt nicht oder nur eingeschränkt. 

Weil das Risiko sich mit dem Virus anzustecken viel zu hoch ist. Und sie deswegen die Maske im Supermarkt brauchen, auch von anderen. 

Und um es klarzustellen, es geht hier nicht um Neid. Es geht um Mitmenschen, die eigentlich auch gerne wollen würden, würde man das Verständnis aufbringen im Supermarkt einfach weiter eine Maske aufzusetzen, damit sie wenigstens ein bisschen Alltag zurück bekommen.


Man bezeichnet das auch als "Inklusion". Aber ich finde, wenn wir schon aus den Schneckenhäusern kommen sollen, dann doch alle oder? Jeder sollte die Chance bekommen. Das wäre fair. 

Es ist schade, dass hier kein Konsens möglich scheint,  dass die selbst erkannte "Unbekümmertheit" der Autorin die Sicht auf den Umstand behindert, dass wir alle verzichten mussten und dass es für viele wesentlich schwieriger ist, jetzt zurück ins Leben zu kommen. Und die in diesem Falle eine vermeintliche Minderheit, die keine ist, um Verständnis zu bitten, geht nicht.

Wie gesagt, jeder zweite Deutsche ist chronisch krank, vielleicht nicht alle sind in einer heftigen Lage, aber viele davon und die müssen jetzt draußen bleiben. Aus dem Leben. Während die einen sich jubelnd von der Maske verabschieden, bleibt sie bei vielen anderen auf. Weil es nicht anders geht und damit haut jemand mit guter Gesundheit verständnislos eine Tür zu, die für alle, egal in welcher Situation, offen sein sollte. Dafür habe ich kein Verständnis. 

Ob das richtig ist, wage ich zu bezweifeln. Weil was nicht mitgedacht ist, in diesem ganzen tollen, neuen Lebensplan: Eine Krankheit kann jeden erwischen. Ob man will oder nicht. Eines ist aber klar: Kommt man in diese Situation, bekommt der Begriff "Verständnis" einen ganz neuen Stellenwert.

Birgit 


Bilder: pixabay.com 


3 Kommentare:

  1. Das Denken setzt meist erst ein, wenn man selber vulnerabel wird - bis dahin leistet man sich "Unbekümmertheit".
    Führt die Unbekümmertheit zu Vulnerabilität (beispielsweise durch Long Covid), leisten dann andere ... mit mit ihrem Verständnis und Krankenkassenbeiträgen.

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  2. Liebe Birgit - danke - du hast es auf den Punkt gebracht und mir aus dem Herzen gesprochen…. Ich hoffe viele lesen deinen Artikel

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    1. Dankeschön für dein Kompliment. Damit viele den Artikel lesen hilft es immer, ihn zu teilen! Das wäre super! Herzliche Grüße!

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