Donnerstag, 20. Januar 2022

EBV und MS - der neue heiße Scheiß! Über Fakten, Behauptungen und destruktive Berichterstattung

Die Nachricht der letzten Tage in Sachen MS ist wohl die: 

Es gibt eine Impfung gegen das Ebstein Barr Virus (EBV). Gleichzeitig hat man herausgefunden, dass das EBV die Ursache für die Auslösung der MS ist. 

Ich sag ja, der krasse heiße Scheiß oder? 

Als ich durch die Medien surfte und mir das eine oder andere durchgelesen habe, begegneten mir: 

- falsche Zahlen über MS 

- das große Heilversprechen

- ziemlich falsche Falschinterpretationen 

- und einige wenige, die realistisch blieben und für die ich dankbar bin. 

Wir dröseln also auf. 


Achtung: Update ganz unten. 10.05.2022

Es ist immer beeindruckend, wie solche Nachrichten entweder falsch und sensationsgeil ausgeschlachtet und dann on top noch falsch interpretiert werden und wie schnell man über Heilung nachdenkt. Egal ob Medienschaffende oder Normalverbraucher, nimmt der Zug Fahrt auf, ist er nicht zu stoppen. 

Zur Klarstellung: Ich verstehe das Hoffen auf Heilung mehr als gut. Das Fräulein Trulla und ich sind derzeit keine guten Freunde. Leben mit MS ist eine schwierige Angelegenheit. Es fühlt sich an wie auf einem Vulkan und du weißt nicht, wann du in den Krater fällst. Die Hoffnung auf Heilung ist absolut verständlich. Der Ruf danach ist laut und wie oft hört man auch in diesem Zusammenhang nicht selten abstruse und völlig unsachliche, dazu nicht bewiesene Behauptungen. 

Das ist unsachlich. Es hilft keinem sich diversen Hypothesen hinzugeben, die nicht bewiesen sind. Es ist destruktiv und zerstört die Stimmung und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn es löst in vielen Hoffnungslosigkeit, Aggression, oft Depression und nicht selten Stress aus. Ist das vielleicht hilfreich? 

Ich denke nicht und ehrlich gesagt ärgert mich das ziemlich. Ab und an breitet sich das Gefühl in mir aus, dass sich keiner der Verantwortung bewusst ist, die beim Teilen von Inhalten entsteht. Dabei werden diese Informationen gelesen, gehört, gesehen und geglaubt. Ob sie richtig sind, hinterfragen die wenigsten. 

Wir alle, egal ob Journalisten, Blogger, Instaleute und alle die etwas verbreiten haben hier Verantwortung zu übernehmen. Besonders wenn sie mit einer wirklich sensitiven Community wie der MS Community reden. Da gibt es die erfahrenen Teilnehmer aber eben auch die, die gerade aus der Diagnose kommen. Und wie werden die wohl denken? Ohne viel Wissen über MS? 

Ihr merkt, ich bin heute am granteln, weil ich es nicht ok finde, eine sicherlich großartige Neuigkeit so unsachlich aufzupumpen und von Heilung zu sprechen, wie es gerade passiert. 

Fakt ist: 

- MS ist derzeit nicht heilbar. Aber mit Therapien in vielen Fällen beherrschbar. Ob man sich für oder gegen eine Therapie entscheidet, liegt an einem selbst. Es hilft auf jeden Fall sich gut zu informieren und zu fragen, wenn man etwas nicht versteht. Und zwar einen Experten. Im Bedarfsfall empfiehlt es sich auch, sich eine Zweitmeinung zu holen oder sich mit der Patientenorganisation, in dem Fall der DMSG in Verbindung zu setzen um für sich Klarheit zu erlangen. Am Ende ist es aber das Gespräch mit dem Mediziner und die eigene Entscheidung. 

- In Deutschland leben 252.000 Menschen mit MS. Nicht 220.000 oder 240.000 wie es in den letzten Tagen bemerkt wurde. Eine gute Quelle ist übrigens der Atlas of MS von der MS International Federation  

- Die Prävalenz für Deutschland ist 303. Das heißt, 303 Menschen von 100.000 haben MS. Das heißt auch, entgegen diverser Berichte in dieser Woche, dass MS keine seltene Erkrankung ist. Gerade in den letzten Jahren haben sich die Diagnosewege extrem beschleunigt und daher gibt es immer mehr Menschen mit MS. Übrigens, in Europa gilt eine Erkrankung als selten, wenn die Zahl der Erkrankten weniger als 1 in 2000 beträgt. (Quelle Eurordis)

- Wir wissen, dass es in der Vergangenheit viele Theorien gab, was die Ursache für MS ist. Die war und ist noch nicht bekannt. Forscher in aller Welt haben sich in Sachen Vitamin D Mangel, Genschäden, Viren als Auslöser oder auch Impfschäden in die Forschung begeben und die Sachen recherchiert. 

Und jetzt kommen wir zum Epstein - Barr Virus, das ich nachfolgend als EBV bezeichne. 

Eine Studie die im Fachmagazin "Science" publiziert wurde, bestärkt den Verdacht, dass MS durch das EBV ausgelöst werden kann. 

Die Grundlage der Studie waren die Datensätze von 10 Mio. Angehörigen des US Militärs. 

EBV gehört zur Familie der Herpesviren und erhöhte das MS Risiko bei US Soldaten um das 32-fache. 

In dem Bericht wird auch erwähnt, dass eine Impfung gegen das EBV helfen könnte, eben nicht an MS zu erkranken und damit die Inzidenz (die Zahl der neu Diagnostizierten!!) zu senken. 

Die vollständige Berichterstattung findet Ihr auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, die vertrauenswürdig ist. 

Realistisch betrachtet: 

Wir haben also das Wissen, dass es sein könnte, das die von Moderna entwickelte mRNA Impfung gegen das EBV auch dabei helfen könnte, dass jemand keine MS Diagnose bekommt, weil in dem Fall der Auslöser weg wäre. 

Das heißt aber auch, wer MS schon hat, ist da außen vor. Weil er es eben schon hat. Es träfe also hauptsächlich eine Reduzierung der neuen Diagnosen. Heilbar ist MS, wie oft in diesem Zusammenhang bemerkt, noch lange nicht. Nur die Zahl der Patienten würde sich, sofern das alles eintrifft, reduzieren. 

Der Wirkstoff ist jetzt in Phase I der klinischen Prüfung. Das bedeutet, dass der Wirkstoff nachdem er ausgiebig an Gewebeproben etc. getestet wurde, erstmalig an gesunden  und freiwilligen Probanden getestet wird. Man will zum Beispiel herausfinden, ob der Wirkstoff verträglich ist und die Ergebnisse der Vorstudien bestätigt werden können. (Das Bundesministerium für Bildung und Forschung gibt dazu gute Infos!)

Sämtliche Vermutungen sind im Konjunktiv II geschrieben. Das heißt in der deutschen Sprach auch die Möglichkeitsform. Hätte ich, dann täte ich und würde wahrscheinlich. 

Umgekehrt: Nichts ist sicher. Es gibt einen Anhaltspunkt, der vielversprechend ist, der Anlass dazu gibt, Aktivitäten in der Forschung fortzusetzen und sich einen genaueren Überblick zu verschaffen. 

Um aus der Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zu zitieren: 

"„Vor dem Hintergrund dieser Daten gewinnt die Impfung gegen das EBV an Relevanz, gerade für gefährdetere Populationsgruppen. Frauen sind beispielsweise doppelt so häufig von MS betroffen wie Männer. Die Impfung gegen EBV könnte auch deshalb interessant und effizient sein, da sie womöglich nicht nur der MS, sondern auch verschiedenen Krebserkrankungen vorbeugt“, ergänzt Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN. Noch gibt es keinen zugelassenen EBV-Impfstoff, aber verschiedene Firmen arbeitet daran, u.a. auch das Unternehmen Moderna. Offene Fragen seien neben der Wirksamkeit und Sicherheit der EBV-Vakzine auch, wann und wie häufig eine Impfung erfolgen muss. Ebenso wichtig ist es, Kriterien für die Selektion von Menschen mit einem hohen MS-Risiko zu erarbeiten. „Der Weg zu einer Impfung gegen MS ist noch weit – und wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht, bleibt ohnehin die Frage, wie hoch seine Akzeptanz in der Bevölkerung sein wird. Letztlich hat Corona eine sehr hohe Impfskepsis in der Bevölkerung offenbart.“

Die Pressemeldung findet Ihr hier: https://dgn.org/presse/pressemitteilungen/multiple-sklerose-durch-das-epstein-barr-virus-kommt-die-ms-impfung/

So da wir jetzt die Fakten betrachtet haben, möchte ich mal zusammenfassen: 

Diese Forschung ist vielversprechend. Aber es ist ein verdammt langer Weg bis zu einer endgültigen Lösung. Das ist großartig, aber kein Anlass für Sensationsgeilheit in Schlagzeilen oder Videos, falsche Angaben oder übertriebene Hoffnung auf Heilung, weil selbige in dieser Studie gar nicht untersucht wird.

So sehr ich mir ein Heilmittel wünschen würde, aufgrund der Fakten wären wir alle, die wir MS schon per Diagnose haben, raus. Wir leben schon damit. Und müssen, leider, klarkommen. 

Seid Euch Eurer Verantwortung bewusst!

Wer berichtet, hat Verantwortung. Egal ob Journalist, Blogger, Instagramer, Twittermensch oder Facbeookgruppenbetreiber. 

Wir haben die Verpflichtung, richtig und korrekt zu berichten, wir müssen aber auch das nötige sensible und emphatische Verhalten den Mitmenschen mit MS gegenüber an den Tag legen. Nicht alle vertragen gleich viel. Weil eine zu enthusiastische Berichterstattung oft große Enttäuschung nach sich ziehen kann und Menschen in eine negative Haltung treiben kann. Das wollen wir doch alle nicht oder? 

Wichtig ist es, Inhalte zu verstehen, richtig zu interpretieren und lieber nochmal nachzulesen als die Informationen ungeprüft in die Welt zu trompeten. 
Verifiziert die Infos mit entsprechenden Gegenlinks von Fachgesellschaften oder Kommentaren von Experten. Bleibt sachlich, realistisch und bodenständig und bietet Lösungen an, wenn es geht. Seid konstruktiv!

Das hilft nämlich mehr als alles andere. 

Mein Lösungsvorschlag: 

Nutzt vertrauenswürdige Quellen. Bleibt kritisch, hinterfragt und glaubt nicht alles, was da draußen los ist. Nehmt Euch einen Moment Zeit und prüft, niemand muss der oder die Erste sein, die Infos teilt. Seid die, die vertrauenswürdige und korrekte Infos teilen. Das darf einen Moment brauchen, ist aber die bessere Strategie. Damit erzeugt Ihr  Mehrwert, weil Ihr damit auch dafür sorgt, dass die, die auch mit MS leben, besser informiert sind. Ihr helft so, dass andere bessere Gespräche führen können, ihre Perspektive besser erkennen und die Situation einschätzen können. Ihr seid die, die für Klarheit sorgen. 

Und sonst? Beobachten und dran bleiben. Ich glaube, wir sehen spannenden Zeiten entgegen. Wenngleich das nichts für den jetzigen Status tut. Da können wir nur weitermachen. Wie immer. 

Weil viel passiert. Und wir sollten dabei sein, auch um unsere Stimme zu erheben, wenn es nötig ist. Weil die MS Community eine starke Gemeinschaft ist, die es zu pflegen und richtig zu informieren gilt. Wie jede andere Community eben auch. 

Update vom 10.05.2022: 

In den USA ist erster Impfstoff gegen das Epstein-Barr Virus im Test. Das heißt, derzeit wird in einer Phase I Studie getestet. 

Das heißt: Eine Gruppe gesunder Menschen, die sich freiwillig dazu bereit erklärt haben, bekommt den Impfstoff verabreicht um zu sehen, wie verträglich der Impfstoff generell ist und ob Nebenwirkungen auftreten. Bei einer Phase I Studie ist es dann das erste Mal, dass ein potentielles Medikament nach der Forschung an Geweben etc., an Menschen erprobt wird. Diese Menschen stellen sich dieser Forschung freiwillig zur Verfügung und helfen so mit, die Sicherheit und Verträglichkeit eines Wirkstoffes zu beobachten und zu erforschen. Mehr dazu könnt Ihr hier nachlesen: https://flexikon.doccheck.com/de/Phase-I-Studie 

Zurück zur Impfung, die getestet wird: Da ca. 95% aller Menschen das Virus in sich tragen, hat die Impfung zwei Ansätze: Zum einen soll der Teil der Bevölkerung, der noch keinen Kontakt zum Virus hatte, geschützt werden, zum anderen soll die Virenvermehrung bei denen eingeschränkt werden, die das Virus schon in sich tragen. So kann es auch Spätfolgen, die durch eine Infektion entstehen würden, einschränken oder unterbinden. So die Theorie. 


Was daraus wird, werden wir sehen, bis der Wirkstoff auf den Markt kommen kann, wird noch mehr Zeit ins Land ziehen. Daher werden wir abwarten müssen. 


Birgit


Text: Birgit Bauer / Manufaktur für Antworten UG 
Bild: Pixabay.com 

1 Kommentar:

  1. Liebe Birgit,
    ein sehr guter und informativer Artikel. Belegt mit Fakten, gut recherchiert und öffnet nun hoffentlich vielen Menschen die Augen, um Berichterstattung zu hinterfragen und nicht alles zu glauben wenn sensationell geile Schreiber, wie Journalisten etc unwissend und dumm etwas in die Welt hinausposaunen.
    Wir sind eine starke Community aber haben Verantwortung schwächere und neu betroffenen Menschen mitzunehmen und nicht Hoffnung zu machen, die es vielleicht gar nicht gibt.
    LG Caro

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