Mittwoch, 12. Januar 2022

Kontrollverlust! Über Scherben die kein Glück bringen und Schubstrategien

Da ist er, der Jahreseröffnungsschub. Er traf mich einfach so. Es war Montag, ich räumte beim Kaffeekochen die Geschirrspülmaschine aus und dann verlor meine rechte Hand die Kraft. Ließ einfach los. Es schepperte gewaltig und eine meiner Lieblingsdessertschüsseln war in tausend Scherben zerborsten. 

Man könnte meinen, Scherben bringen Glück. Aber am Ende zeigen sie das, was MS ist. Eine fiese Fratze die einem ab und an diesen unerträglichen Kontrollverlust einbringt, der einen dann schockiert. Auch mich. Zuerst stand ich da, verwünschte das Fräulein Trulla aufs Übelste, fing an deftig niederbayrisch zu fluchen und machte das, was nötig war. Scherben zusammen kehren, Katzennäpfe wechseln und mit dem Sauger sehr gründlich die Splitter und Scherben aufsaugen, die keiner sah. 

Irgendwann stand das Herzblatt mit fragendem Blick vor mir, der sofort in den Status "weidwundes Reh" wechselte und die Frage nach dem Warum stand im Raum. Ehrlich, ich hasse das "Warum". Ich kann es ja nicht erklären. Weil ich diese Erkrankung hab und die kommt halt immer dann, wenn man nicht damit rechnet und weil sie ist wie ein Räuber, der im Hinterhalt lauert und nur drauf wartet, dass man unachtsam wird. 

Und während er noch ein bisschen wehleidig da stand und saugte, zischte ich nur giftig: "Hey, das ist meine MS und du brauchst hier nicht das Leiden zu geben!"
Denn ich war schon einen Schritt weiter. Ich glaube, ich habe mir in 17 Jahren MS (Wir feiern in Kürze den Geburtstag vom Fräulein Trulla, denkt sie, tun wir aber nicht.) genügend Resilienz angeeignet um da eher ruhig und pragmatisch zu reagieren. Zu beobachten und zu sondieren. Ich weiß genug über MS, die Forschung drumherum und derlei. Und ich kenne das Fräulein Trulla mit ihren sonderbaren Freunden und Eigenheiten. 

Vor allem aber, ich kenne meinen Körper und kann meistens schon sagen, wo wir gerade stehen. Ich weiß, was mir in solchen Fällen gut tut und was nötig ist, um erst mal nicht in Panik zu verfallen. 

Das war besonders am Anfang nicht der Fall. Da kam der Schub und mit ihm diese fiese Panik. Bis ich gelernt habe, dass das mit den Schüben nicht immer das ist, was man so vermutet. Manchmal ist es einfach ein Symptom und klar, man muss das ernst nehmen. Aber es gibt auch Punkte, die es zu berücksichtigen gilt. Ich lernte zum Beispiel, dass ich auch bei Hitze oder wenn ich überhitzt war vom Sport durchaus Symptome erlebte. Die dann abflauten, sobald ich wieder normale Temperaturen hatte und habe. 
Mir wurde klar, dass ich bei Stress schon mal Symptome haben kann, wenn es zu heftig wird oder wenn ich meine Tage habe, mehr Symptome erlebe als normal. Besonders an den ersten beiden Tagen. Von einem meiner Neurologen lernte ich, dass ich 24 Stunden Beobachtungszeit einplanen kann oder soll, wenn ich mir nicht sicher bin. Außer ich habe einen Megaschub, der sofort klar macht, was da läuft. 

So gesehen, diese Scherben brachten und bringen kein Glück. Wie gesagt, es schockiert mich auch nicht, dass eine meiner Lieblingsschüsseln kaputt ging. Das kann ich ersetzen. Was mich schockiert hat, gerade weil ich jetzt so lange ohne so richtig heftige Symptome unterwegs war, war dieser Kontrollverlust. Du kannst ihn nicht verhindern, du gibst deine Kontrolle ab. Für einen Moment nur, aber ein Moment, der fieser nicht sein kann. 




5 Tipps für solche Situationen: 

- don't panic! 
Wenn man sich nicht sicher ist, was da grad war, jemanden holen, der hilft. Eine vertraute Person, die einen zum nächsten Stuhl schiebt, den Dreck oder was auch immer wegmacht, einen umarmt und da ist. 
Sich beruhigen hilft. 

- wenns ganz heftig ist, frag den Arzt 
Man neigt ja gerne dazu, sich zurückzuhalten. Sollte man aber nicht. Auch in Zeiten wie diesen kann man kontaktlos quatschen und Ärzte fragen. Telemedizin oder auch Telefonate machen es möglich sich Infos zu holen und die Situation einzuschätzen. Manchmal hilft auch der Hausarzt schon mal weiter. 

- be informed! 
Informationen sind wichtig, gerade bei MS. Die Erkrankung ist komplex und ich glaube, viele Dinge sind bis heute echt undurchsichtig. Aber es gibt immer wieder gute Informationen bei den MS Gesellschaften, aber auch bei uns Bloggern werden die Themen diskutiert. Als ich damit losgelegt habe, mich zu informieren, sammelte ich Krümel für Krümel zusammen, es gab 2005 nicht wirklich adäquate Quellen und Angebote im Netz, die mir halfen. Heute ist das anders und wenn du dir nicht sicher bist, wo du gute Quellen findest, frag die Community. Viele kennen gute Webseiten oder Gruppen. Bleib aber trotzdem kritisch und glaub nicht jeden Scheiß ok? Filtere die Informationen gut und hinterfrage auch mal. 

- tu was dir gut tut! Well-being!
Für mich bis heute in Schüben wichtig: Dinge die mir gut tun, die mein Herz erfreuen. Gute Musik, ein heißes Bad oder wenn möglich, eine Massage helfen, um meine Laune zu heben. Gute Wolle hilft bei mir auch, ich stricke gerne. Oder ein gutes Essen. Ein schönes Buch oder ein Chat mit Freunden können die Laune heben. Alles was gut tut ist erlaubt. Und notwendig. ;-) 

- take your time for decision making! Nimm dir Zeit für die Entscheidungen! 
Ich arbeite gerne und mal mehr zu tun macht mir nichts aus. Aber wenn es zum Schub kommt, braucht es Entscheidungen, wertvolle Entscheidungen für nächste Schritte. Ab und an eine konstruktive Diskussion mit dem Arzt, der ab und an dann eine andere Perspektive vertritt als man selbst. Diese Diskussion sollte man in einem entspannten Modus führen und nicht zwischen Tür und Angel oder einem Projekt und dem anderen. Denn eine Entscheidung für oder gegen etwas hat immer eine Konsequenz und der sollte man sich bewusst sein. Daher sollte man sich einen Moment nehmen um zu verstehen oder auch nachzuhaken, wenn man etwas nicht verstanden hat. 

Schubzeiten können schwierig sein. Sie können alles, was man sich ausgedacht hat und plant, über den Haufen werfen. Etwas, was uns und auch unsere Familien und Freunde beeinträchtigen kann. Weil etwas nicht stattfinden kann, weil man etwas absagen oder verschieben muss. 

Wenn das bei mir passiert, dann versuche ich das kurz zu erklären, allerdings habe ich alle meine Vertrauten auch im Vorfeld mal drauf angesprochen und die, denen ich am Herzen liege, haben das verstanden und bohren nicht nach oder drängeln. Sie akzeptieren eine Absage, die meist dann knapper ausfällt. Aber sie wissen auch, es ist keine Zeit für Erklärungen, zumindest keine langen. Weil die auch Kraft kosten und die braucht man in dem Moment für sich. 


Ich bleibe jetzt noch entspannt, die Symptome gehen zurück und es sieht so aus, als käme ich gut durch diese Tage. Ich bin optimistisch und vorsichtig und habe dem Hausarzt mal Bescheid gegeben, dass ich gerade nicht so zufrieden bin. Meine Physiotherapeutin ist auch schon drauf angesetzt und wir arbeiten vorsichtig. Und das Herzblatt hat sich auch wieder eingekriegt, er greift dort zu, wo ich gerade Schwierigkeiten habe, schmiert mir am Morgen mein Brot, weil ich am Morgen die meisten Probleme habe und ich bin Rechtshänderin und genau da sitzt das Problem. 

Wenn ich Gläser und Tassen in der Hand habe, packe ich mit beiden Händen zu und konzentriere mich auf das, was ich gerade mache. Alles andere muss dann einen Moment warten. 

Das Leben geht weiter. Mit und ohne Kontrollverlust. Aber ich hols mir zurück. 

Habt Ihr Fragen? Kommentare nutzen und Fragen stellen oder die Liste erweitern! Ich freu mich auf Euch! 

Herzliche Grüße

Birgit 



Text: Birgit Bauer @ Manufaktur für Antworten 2022
Bilder: Pixabay.com 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen