Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, begegnet mir ein Vorwurf, der sich tief eingebrannt hat: Ich sei faul.
Diese Anschuldigung kam nie allein, sondern stets mit erhobenem moralischem Zeigefinger: „Du musst fleißig sein! Ohne Fleiß kein Preis!“ In der Logik meiner Umgebung bedeutete Fleiß vor allem sichtbare, körperliche Anstrengung. Wer nicht in Bewegung war, wer nachdachte oder einfach nur saß, galt als faul. Punkt.
Ich bemühte mich dennoch, diesem Bild zu entsprechen. Ich rackerte, rotierte, tat alles, um sichtbar fleißig zu sein. Doch je mehr ich mich anstrengte, desto mehr ging schief, und die Konsequenzen folgten auf dem Fuß.
Was niemand sah: Meine vermeintliche Faulheit war oft der Versuch, mir kostbare Zeit für Ideen und kreative Freiheit zu nehmen – die Ruhe, die ich brauchte, um gut zu sein. Aber in einer Welt, die „gut“ mit rastlosem Tun gleichsetzt, war dafür kein Raum.
Dabei möchte ich nicht undankbar wirken. Auch die Konventionen, die meine Kindheit prägten, haben mich geformt. Sie haben mich viel gelehrt – auch, was ich später anders machen wollte. Fleiß an sich ist keine Schande. Ich wage von mir zu behaupten, dass ich durchaus fleißig bin. Ich habe viel geschafft. Besonders in diesem Jahr.
Aber ich habe mit den Jahren auch gelernt, dass Fleiß nicht nur harte Arbeit oder permanentes Tun bedeutet. Manchmal geschieht Fleiß im Inneren, unsichtbar für andere. Es ist ein bisschen wie die unsichtbaren Symptome der MS. Wenn ich heute stricke, mag es nach außen hin wirken, als würde ich „nichts“ tun. In Wahrheit arbeitet mein Kopf auf Hochtouren: Ich löse Probleme, sortiere Gedanken oder forme Ideen. Stricken ist gut fürs Gehirn, es vernetzt und trainiert die Kognition und ist zudem eine gute Ergotherapie. Aber das nur am Rande, zurück zur Faulheit.
Eine prägende Erinnerung dazu weckte kürzlich ein Beitrag im Magazin Twist auf ARTE über Faulheit. Darin ging es um den Wert von scheinbarer Untätigkeit und ich fühlte mich verstanden. Der Beitrag zeigte auf, wie Faulheit auch sein kann. Produktiv, kreativ und voller Ideen, die man entwickelt, wenn man den Raum für freie Gedanken hat.
Mein Weg in die „Faulheit“ begann allerdings erst richtig nach der Diagnose MS, das war vor fast 20 Jahren, im Januar ist es wieder soweit, dann werden "wir" 20.
Die MS, oder auch das werte Fräulein Trulla zwang mich, mein Leben radikal zu überdenken. MS passte nicht in die bisherigen Muster und Konventionen, die man halt so lebt, wenn man halt so lebt, solche, die man lebt, weil sie einem vorgelebt wurden. MS und dieses Paket waren nicht kompatibel. Auch viele Menschen übrigens nicht. Sie taten MS als Psychosomatisch ab, andere machten daraus eine psychische Störung und wollten mit entmündigen und wieder andere verschwanden in der Versenkung. Letztere waren übrigens die einfachsten, sie waren halt einfach weg. Das tat anfänglich weh, hat sich aber gelegt, weil ich irgendwann verstanden habe, dass es so besser war.
Mir war klar: Wenn ich nicht völlig ausbrennen wollte, musste ich etwas ändern. Denn MS zu haben heißt auch, sich zu sortieren und eben andere Wege zu gehen. Und sich immer dem hingeben, was andere als "das richtige Leben" definieren und einem aufdrücken wollen, kann ganz schön Energien verschwenden. Die eigenen. Und das ist im Fall mit MS bisweilen recht ungesund.
Mit Hilfe einer Therapeutin sortierte ich meine Prioritäten und lernte, meinen Weg zu gehen – auch wenn das nicht ohne Verluste blieb. Viele Menschen in meinem Umfeld konnten nicht verstehen, dass ich meinen eigenen Weg gehen musste und wollte. Einige davon stellten sich so sehr gegen meine Veränderungen, dass sie am Ende eher eine Last als eine Stütze waren. Diese Menschen loszulassen, war schmerzhaft, aber notwendig.
Eine der größten Herausforderungen war die Reduktion auf die Rolle der Patientin. Manche schienen zu glauben, dass ich mit der Diagnose plötzlich unfähig geworden wäre, mein Gehirn zu nutzen. Hoch lebe der Ableismus sag ich nur! Ableismus bedeutet, dass man Menschen mit Behinderung, Erkrankungen etc. auf genau das reduziert. Mehr ist nicht drin. Mehr dazu hier!
Aber das Gegenteil ist der Fall: Krankheit nimmt einem weder Wissen noch Denkfähigkeit. Sie brachte mich dazu, kritischer zu werden, zu hinterfragen und überhaupt, zu fragen. Auch so eine unbequeme Sache, weil wer fragt, trifft oft auch Dinge, die andere nicht leiden mögen. Dann ist man böse. ;-)
Eine Erkrankung wie MS zwingt einen, sich intensiv zu informieren, zuzuhören und ständig dazuzulernen. Denn am Ende hängen Wohlbefinden und Lebensqualität oft von den Entscheidungen ab, die man selbst trifft. Dieses bewusste Lernen und Gestalten hat mich stärker gemacht – und mir geholfen, meinen Weg zu finden.
Ich habe erkannt, dass Faulheit oft eine Frage der Perspektive ist. Was von außen wie Untätigkeit aussieht, kann innerlich produktive Arbeit sein. Und warum bitte immer sitzend am Schreibtisch arbeiten? Nur weil es busy aussieht? Nö. Und das ist auch unbequem für viele.
Unbequem zu werden, das eigene Leben zu verändern und den Erwartungen der anderen nicht mehr zu entsprechen, ist ein Kraftakt. Es ist immer einfacher, in alten Strukturen zu verharren – ob aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit. Doch genau darin liegt die Gefahr: dass man am Ende das Leben der anderen lebt und nicht sein eigenes. Und das ist auch ein Kraftakt, aber einer, der so meine Erfahrung noch heftiger ist und länger andauert. Man limitiert sich selbst und das ist schwierig. Weil man den Vorstellungen anderer entsprechen muss. Das kann verdammt mühsam sein und lohnt nicht wirklich.
Für mich zählt heute, dass jeder sein Leben so gestalten darf, wie er möchte. Ob in Konventionen oder herrlich faul und dennoch produktiv – beides hat seine Berechtigung. Aber entscheiden muss man sich eben auch. Wenn ich etwas aus meiner Vergangenheit mitnehme, dann die Einsicht, dass Veränderungen unbequem sein können, aber oft notwendig sind. Und dass es sich lohnt, für das eigene Leben einzustehen. Denn am Ende ist es das Einzige, was wirklich zählt: das eigene Leben. Nicht das der anderen.
Nachdenklich,
Birgit
Bild: Pixabay
Text: Birgit Bauer
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