Samstag, 23. Januar 2021

Voll verpennt. oder wie ich Fräulein Trullas Geburtstag vergessen konnte ....

So gesehen, wir haben den 23. Januar 2021. 

Seit zwei Tagen habe ich 16 Jahre ein fast normales Leben mit MS.

Fräulein Trulla hatte Geburtstag. 

Am 21. Januar. 

Und keiner hat ihr gratuliert. 

Geschweige denn an sie gedacht. 

Noch nicht mal ich.

Ich habe es voll verpennt. 


Noch nicht einmal das Fräulein schickte ihre monatliche Erinnerung. Sie hielt sich einfach zurück. Still und sittsam. Wie gute Fräulein Trullas aus der höheren Schule für besondere Trullas das nicht tun. Die lernen das anders bei Professor Trullerich. 

Vielleicht war sie auch deshalb zurückhaltend, weil sie einen Coronascheitel hat, die Wasserwelle bei Monsieur Toni ausfällt und die Stärke fürs Spitzenkrägelchen bereits verbraucht ist. 

Ihr kennt sie, sie ist eitel. ;-) Das haben wir gemeinsam, und den Coronascheitel. 

Ich könnte jetzt darüber schreiben, was am 21. Januar 2005 passierte. Was ich erlebt habe und wie geschockt ich war über die Botschaft, dass ich MS hätte und die empathilose Art des Arztes, der mir das in fünf Minuten vor den Latz knallte. Ich könnte darüber philosophieren wie die Lumbalpunktion war, dass ich beinahe gekotzt hätte und dramamäßig eine Krankenschwester bekam, die mir das Händchen hielt. Und die seltsamen Tests und die Studentengruppe, die ständig um den Arzt herum schwirrte. 

Das Drama nahm damals seinen Lauf und angenehm ist anders. Aber das geht vorbei. 

Der Grund warum mir das heute so durch den Kopf geht ist, dass ich derzeit entrümple. In mir und in meinem Büro. Ich werfe so zerfledderte Dinge hinaus. Trenne mich. Von Dingen, Gedanken und auch einem Teil meiner Arbeit, also Projekten. 

Während des Jahreswechsels ist mir aufgefallen, wie sehr sich alles veränderte. Nicht wegen Corona alleine, das olle Virus spielt da wahrscheinlich auch ins Geschehen, aber nicht maßgeblich. Ich reflektierte so vor mich hin und fand Dinge, die ich so nicht mehr mitnehmen kann. Sie passen nicht mehr zu mir oder in mein Leben. Ich fing an, alles zu überdenken und das ist gut so. Hilft, neue Perspektiven zu finden. 

Als ich heute meinen Setzkasten, der mir seit Jahrzehnten immer wieder begleitet, ausräumte, um ihn erst mal aus dem Büro zu entfernen, fiel mir die plötzliche Leere in den Kästen auf. Und im selben Moment fiel mir ein, dass das Fräulein Trulla Geburtstag hatte. Flotte 16. 

Diese Leere hat heute etwas Gutes. Man kann sie nämlich füllen, Dinge, die zu alt oder unbrauchbar geworden sind, kann man entfernen und dafür etwas einsetzen, das mehr Sinn macht, das hilft und erfreut. 

Als ich die Diagnose bekam, fühlte sich alles leer an. Für den Moment. Mein Leben war gegen die Wand gedonnert und es war nichts mehr wie zuvor. Es war leer geworden.


Wie mein Setzkasten heute. Aber dessen leere Fächer machen heute für mich Sinn. Denn, leere Fächer sind eigentlich auch eine Chance. Wenn man sie sehen will. Sie sind die Option für einen, etwas Neues zu beginnen, mal darüber zu sinnieren, was in der Vergangenheit gut war, was man mitnehmen kann ins Neue und auch, was man zurücklassen kann, gar muss, weil es einem nicht gut tut. 

Es ist auch ein Zeichen dafür, dass man diesen Neubeginn nicht alleine geht, denn es ist etwas da. Das Gerüst, ein Rahmen der einem Stabilität gibt, aber Platz lässt, die eigene Richtung zu wählen. Dass das keine einfache ist, wenn man gerade mal hörte, dass man mit MS umgehen muss, ist klar. Es ist wahrlich eine monumentale Aufgabe, aber eine, die nicht verlangt, in kürzester Zeit erledigt zu werden. Es ist eher eine Aufgabe, die von einem erwartet, dass man sie genauer betrachtet, sich Zeit dafür nimmt, sie gut zu erledigen. Man lernt, die kleinen Dinge zu sehen, schafft man einen Teil, wird man dankbar und lernt Demut. 

Ich würde nicht sagen, dass ich mit meiner Aufgabe schon fertig bin. Davon bin ich weit entfernt. Aber ich habe die letzten 16 Jahre viel erreicht und gelernt. Die größte und beste Erfahrung war, dass das Leben weitergehen kann. Eben anders, weil man auf einmal mit vielen teilweise seltsamen Dingen, auch Menschen, konfrontiert wird, mit denen man umgehen lernen muss. Ich habe gelernt, Mitleiden außen vor zu lassen, die, die mit MS nicht umgehen können, friedlich zu verabschieden und giftige Menschen schlicht stehen zu lassen. 

Dafür bin ich dankbar, denn viele dieser Dinge, die ich erreicht habe, haben mir gezeigt, was ich kann, zu was ich bereit bin und wozu ich fähig bin und trotz aller MS bedingten Widrigkeiten kann ich mal stolz sagen: Das ist eine fucking verdammt große Menge. 

Die einzige Sache ist: Man muss sich trauen, den ersten Schritt zu gehen, sich bewusst darüber sein, dass man nicht MS ist, sondern ein Mensch, der damit lebt. 

Mit MS zu leben macht Mutig und Stark. Man kann noch über sich hinaus wachsen, wenn man will. 

Und ich habe so viele tolle Menschen mit MS gesehen, die genau das taten. Sie wuchsen über sich hinaus, im Rahmen dessen, was ihnen möglich ist und war. 

Bekamen Kinder, gründeten Unternehmen, sind laut und erzählen von sich. 

Man muss ihnen nur zuhören. Dann lernt man über buntes Leben, Zusammenhalt, eine Community die richtig toll ist und von Menschen, die ab und an andere Wege gehen und dennoch Ziele erreichen. 


Auch wenn sie den Geburtstag von Fräulein Trulla voll verpennt haben. Wie ich. 

Und das Herzblatt. Der eben sagte: "Na ja, das zeigt doch, dass sie definitiv nicht das Kommando hier hat. Und das ist gut so. Oder?" 

In diesem Sinne, diverse Geburtstage zu verpennen ist keine Schande. Ganz im Gegenteil. 

Liebe Grüße

Birgit 



Bilder: 

Birgit Bauer

Pixabay.com

Text: 

Birgit Bauer, Manufaktur für Antworten UG 

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