Ein afrikanisches Sprichwort sagt: Wer ein Kind erziehen will, braucht ein Dorf.
Laßt mich das einen Schritt weiter treiben: Wer die pflegerische Verantwortung für einen sehr kranken Angehörigen übernehmen muss, braucht ebenso eines.
In den vergangenen Monaten durfte ich mit ansehen, wie schwierig es für Angehörige ist, die pflegerische Verantwortung für ein Familienmitglied zu übernehmen und richtig für einen anderen Menschen zu entscheiden. Es ist an sich schon eine große Verantwortung, die man übernimmt, wenn man für sich selbst entscheiden muss. Für oder gegen eine Therapie, Operation oder Behandlung. Gegen ein Medikament, eine Untersuchung und vieles mehr. Wir tun dies so gut wie möglich, die meisten von uns verstehen auch, um was es geht. Wir haben oft gute, vertrauenswürdige Quellen oder jemanden, den wir fragen. Die meisten von uns wissen über Patientenrechte Bescheid und kennen die Fakten über unsere Erkrankung, egal ob MS oder eine andere.
Wie viel schwieriger ist es nun wohl, sich nie mit solchen Themen befasst zu haben und dann mit einer neuen Diagnose konfrontiert zu werden, die uns selbst nicht betrifft, sondern einen Angehörigen? Es ist eine Herausforderung und hat man nicht besagtes Dorf zur Hand und lässt sich helfen, kann es ein Kraftakt werden. Es sind Entscheidungen zu treffen, die ein anderes Leben betreffen. Dessen muss man sich bewusst sein.
Man kann sich nicht auf alles vorbereiten das ist völlig klar. Es gibt Dinge, die sind wie ein Überfallkommando. Man rechnet nicht damit und doch holen sie einen ein. Auf eine gemeine Art, die herausfordert. Weil eine Person so krank ist, dass sie nicht mehr vernünftig entscheiden kann, ist ein anderer auf einmal ein Betreuer, Pfleger und nicht zuletzt: Entscheidet. Und es geht um soviel mehr. Um Wissen, Information und dem Bewusstsein, dass es um ein anderes Leben geht, über das man entscheiden wird.
Sich darauf vorzubereiten ist, so glaube ich, fast nicht möglich. Allerdings, kann man vielleicht ein wenig vorbereitet sein. Indem man sich in den Zeiten Gedanken macht, in denen Ruhe ist. In denen man in der Lage ist, vernünftig über den Umstand nachzudenken, was passieren soll wenn einer so richtig krank wird. Das kann aufseiten der Angehörigen sein und man kann auch selbst etwas tun. Damit das Leben im Ernstfall für alle ein kleines Bisschen einfacher wird.
Ich möchte euch heute ein bisschen davon erzählen, was ich in den letzten Wochen erlebte. Es war schwierig, teilweise schockierend. Aber ein guter Grund für mich nachzudenken, was ich für mich für den Ernstfall tun kann und was wichtig ist. Das Ergebnis habe ich zusammengefasst und vielleicht hilft oder inspiriert es euch ein bisschen, sich bewusst zu machen, was man in guten Zeiten tun kann. Etwas über die Dinge für den Hinterkopf, die man eben rauskramen kann wenn das Leben zur Herausforderung wird.
Was mir passierte war, dass ich, modern denkender und aufgeklärter Mensch mit einer Auffassung aus dem letzten Jahrhundert konfrontiert wurde. Zweimeinung? Um Gottes Willen, das macht man nicht, man vertraut dem Arzt. Die Kopie von Akten erfragen? Das kann man denen nicht zumuten und überhaupt, Fragen stellt man nicht. Die werden es schon wissen.
Als ich Unterstützung anbot, war ich schnell raus. Ich, die eine Zweitmeinung anregte und Befunde sehen wollte, wurde quasi abgewiesen. Emotional auch für mich belastend, denn ich hätte helfen können. Mit meinem Wissen als Patientenvertreterin bin ich in verschiedenen Vorträgen und Fachdiskussionen, aber auch hier, aus der Gemeinschaft meiner Leserinnen und Leser mit Fragen zum Thema konfrontiert worden und versuchte Antworten zu finden. Und selbst wenn ich nicht alles sofort beantworten kann, so habe ich doch Kontakte, die helfen können. Man muss nicht alles selbst wissen, aber man muss wissen, wen man fragen kann. Und das hätte ich definitiv gekonnt.
Denn es ist doch so: Es geht um ein anderes Leben und damit auch um ein Paket Verantwortung, die man übernehmen muss. Dachte ich. Vielleicht war ich ein bisschen zu naiv zu glauben, dass die Menschen, denen ich zuschaute und von denen mir ein oder zwei nahe sind und die nach 15 Jahren Patient Advocacy durchaus wissen, dass ich aktiv in dem Bereich helfe, es hätten wissen können, dass ich helfen kann. Doch sie ließen mich nicht. Ich musste das akzeptieren. Und es hat mir nicht gefallen wenn ich ehrlich bin, aber gut, ich ging auf Abstand und beobachtete nur als stille Begleiterin, was für mich die Herausforderung war.
Was ich da sah, war Verzweiflung, die jemanden begleitet, der versuchte irgendwie zu entscheiden und eigentlich nicht in der Lage dazu war. Es fehlte an Information und der Eigenschaft, Hilfe anzunehmen. Modernes Handeln vs. Tradition, einer Prise Paternalismus und Konventionen. Dabei ging es am Ende um die Verantwortung für einen anderen Menschen und dessen Leben. Eine Person, die nicht mehr in der Lage ist, rationell oder sachlich zu entscheiden oder zu formulieren, was er oder sie will und was nicht. Es geht darum eine fremde, aber umso wichtiger und gewichtige Rolle einzunehmen: die eines Vormundes oder Bevollmächtigten. Und da wird es richtig ernst, weil man entscheiden muss. Informiert und sinnvoll. Vielleicht auch, wenn es dem Patienten nicht so gefällt. Die ganze Situation ist verständlicherweise eine extreme Belastung.
Ich maße mir nicht an andere zu beurteilen oder anzuklagen. Meiner Meinung nach gibt jeder Mensch, der in diese Situation kommt, sein Bestes. Vorbereiten kann man sich nicht oder nur bedingt. Weil in dem Moment Emotionen das Kommando übernehmen und Menschen damit auch ein bisschen unberechenbar machen.
So gesehen, ich habe mir meine Meinung gebildet und mir überlegt, was man im Vorfeld tun kann. Also in guten Tagen dafür zu sorgen, dass vielleicht die eine oder andere Entscheidung klar ist, die Angehörigen Bescheid wissen, was man selbst möchte und auch weiß, welche Rechte man hat. Das können wir auch als Angehörige tun. Die Punkte, die ich sah, habe ich hier festgehalten. Weil ich wichtig finde, dass man sich mal damit auseinander setzt und ganz ehrlich, die eigenen Rechte zu kennen schadet jetzt auch niemandem.
1. Nehmt Unterstützung an - gerade wenn Familienmitglieder in Situationen geraten, in denen jemand für sie entscheiden muss, ist die Situation hoch emotional. Wenn jemand da ist, der sich auskennt, mit Abstand an Sachen herangehen und sie durchdenken kann, nehmt diese Unterstützung an. Patientenvertreter, Soziale Dienste aber auch Patientenorganisationen können helfen, die Sachen verständlich zu machen und zusammenfassen oder verständlich informieren. Sie verstehen sich auf den Austausch mit Ärzten, haben über die Jahre Erfahrung wie Wissen gesammelt und sind auch bereit, nachzufragen, wenn es unverständlich wird.
Übrigens: Auch Psychologen können helfen und dafür sorgen, dass Ruhe in eine Situation kommt. Holt Euch auch für Euch Hilfe. Es ist keine Schande, sich psychologisch begleiten zu lassen.
2. Habt keine Scheu nach Unterstützung zu fragen - Wenn es kein Angebot gibt, fragt danach. Ärzte, oft auch die Hausärzte, Pflegekräfte oder Freunde haben oft Adressen oder Tipps. Auch die Krankenkasse kann helfen. Sie alle können helfen, die richtigen Begleiter zu finden, die da sind um zu helfen, wenn es nötig ist. Auch wenn es um Anträge oder Bürokratie geht.
3. Fragt nach - Ärzte haben eine eigene Sprache, das ist ok. Dass wir medizinische Fachsprache nicht verstehen, liegt in der Natur der Dinge, wir sind nicht alle Mediziner.Wenn ihr also so einen Fachbegriff nicht versteht, lasst euch das erklären, das ist euer Recht. Wenn ein Sachverhalt unklar ist, hakt nach, lasst euch bei Bedarf auch etwas belegen oder fragt nach guten Informationsquellen, Broschüren oder auch Websites.
4. Das bringt uns zur Zweimeinung - Eine Zweitmeinung ist ein Recht und in mittels der freien Arztwahl in Deutschland möglich. Ist man sich unsicher, ob man alles verstanden hat oder ob die Gründe für eine Operation ausreichend sind, kann man einen zweiten Arzt hinzuziehen lassen, die Krankenkasse kann helfen, man kann das aber auch aktiv im Krankenhaus erfragen. Das geht auch über ein qualitätsgesichertes Verfahren. Die Verbraucherzentrale hat hier einen guten Artikel im Juni diesen Jahres veröffentlicht. https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/aerzte-und-kliniken/aerztliche-zweitmeinung-was-die-krankenkasse-zahlt-13493
Übrigens, in solchen Fälle hilft es, die Befunde und Ergebnisse kopieren zu lassen. Das kann man einfordern weil es auch ein Recht ist. Ärzte sind verpflichtet diese Belege zur Verfügung zu stellen, zeitnah und vollständig. Sie dürfen dafür eine Gebühr berechnen, was Kopien angeht. https://www.patientenberatung.de/de/informationen/recht/fragen-und-antworten-patientenakte
Übrigens, diese Kopien können auch eine Entlastung sein, wenn es darum geht, Tests nicht wiederholen zu müssen. Da wir in Deutschland noch nicht überall und immer Daten austauschen können oder viele von Euch noch keine elektronische Patientenakte haben, die vollständig ist, kann das helfen, besser informiert zu sein und damit auch besser und zum Wohle der Patienten zu entscheiden.
Übrigens, man hat ein Recht auf Einsicht in die Patientenakte:
https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__630g.html
5. Entscheidet informiert - Der Arzt wird's schon richten ist nett. Aber: zu verstehen, was die Ärzte tun ist viel besser! Wenn einem jemand sein Leben anvertraut, ist dieses Vertrauen und die damit verbundene Verantwortung eine hoch sensible Sache. Man muss sie im wahrsten Sinne des Wortes tragen können. Kann man das mit einigen wenigen Informationen? Ich glaube nicht. Daher ist es wichtig, informiert zu sein und ja, das ist mühsam, aber wie kann man abwägen was die Person wollen würde wenn man die sachlichen Hintergründe nicht kennt?
6. Thema Entscheidung und Zeit: Es gibt Dinge, die sind dringend und es gibt Momente, die kann man sich nehmen. Zum Durchatmen. Das Gehörte verdauen und dann noch mal selbst alles in Ruhe ansehen. Fragt nach, wieviel "Denkzeit" möglich ist und entscheidet in Ruhe. Das vermeidet auch den fiesen Konjunktiv 2, der dann danach sein Unwesen treibt. Hätte ich anders entschieden, wäre das nicht passiert .... Kein Mensch braucht das.
7. Hinterfragt und prüft - Zugegeben, die Informationsflut ist in solchen Fällen groß. Diese Informationen kommen von Ärzten, aber auch von Menschen, die es eigentlich gut meinen, aber falsch sagen oder nicht verstehen. Daher, wenn Informationen kommen, fragt nach der Quelle, prüft nach, nutzt das Netz oder aber fragt bei den Patientenorganisationen nach. Man findet sie einfach, indem man Ärzte fragt, die Kasse oder im Netz "Patientenorganisationen" und die Erkrankung sucht. Auch sie kennen oft vertrauenswürdige Quellen, die verständlich die Lage erklären. Oder auch Studien etc.
8. Patienten haben Rechte - Sie sind fixiert im Patientenrechtegesetz, das seit 2013 in Deutschland gilt. Es geht um Information, Einwilligung, Rechte, aber auch Pflichten, die wir haben, wenn wir selbst Patienten werden oder einen Angehörigen vertreten. Alles dazu gibt es hier in einer Übersicht: https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_Verbesserung_der_Rechte_von_Patientinnen_und_Patienten
Zur Website des Bundesgesundheitsministerium mit dem Gesetzestext: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/p/patientenrechtegesetz.html
Weitere Anlaufstellen sind die Unabhängigen Patientenberatung Deutschland oder der VdK der auch in Ortsverbänden organisiert ist.
Auch die Website des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) kann viele Informationen anbieten. Der Gemeinsame Bundesausschuss ist das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen in Deutschland. Die Hauptaufgabe des G-BA ist die Bestimmung Regeln, die die medizinischen Leistungen betreffen, die wir als Krankenversicherte beanspruchen können.
Über den G-BA an sich: https://www.g-ba.de
Der G-BA fällt regelmäßig Entscheidungen und fasst Beschlüsse, die auch auf der Website veröffentlicht werden. Sie ist ein bisschen sehr fachlich, aber durchaus lesbar und auch in leichter Sprache gibt es Informationen. Besonders interessant fand ich diese Meldung: Es geht um Begleitpersonen von Menschen mit Behinderung im Krankenhaus: https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1067/
Es gäbe noch viel mehr zu sagen, wichtig ist mir aber noch ein Punkt:
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Und zwar nicht erst um fünf vor Zwölf, sondern in Zeiten, in denen es euch gut geht. Sonst läuft man Gefahr, Entscheidungen zur treffen, die man sich vielleicht anders überlegt hätte, hätte man einen Moment Zeit gehabt. Zu Lebzeiten vorsorgen heißt auch, die Angehörigen entlasten, klar zu machen, was man möchte und wofür man sich entscheidet. In Ruhe und gut informiert, man kann sich einen Rat einholen und alles entspannt überdenken. Das hilft auch die Situation besser zu managen, denn die Emotionen spielen hoch und das rationale Denken ist ohnehin nicht funktionstüchtig.
Das habe ich gelernt. Je klarer die eigene Ansage und Formulierung der Wünsche ist, desto besser für alle Beteiligten und für einen selbst. Ich selbst hinterfrage einmal im Jahr was ich mir überlegt habe und bin ich der Meinung, dass es nicht mehr stimmig ist, ändere ich das. So bleibt mein Wille aktuell und die Zielvorgabe ist in meinem Sinne.
Und das ist es doch, was es sein soll: Behandlung und Pflege im Sinne der Person um die es geht oder für einen selbst. Vorsorge ist besser als endlose und nicht besonders hilfreiche Diskussionen.
Was die Verantwortung betrifft, werde ich in Zukunft auch dafür sorgen, dass diejenigen, die die Verantwortung für mich übernehmen müssen, informiert und fähig für mich einzustehen und mich zu vertreten. Daran muss man arbeiten. Jetzt, weil es mir jetzt gut geht. Vorsorge eben. Auch was Wissen betrifft, damit Verantwortung tragbar wird. Für das Dorf, das dann für euch da sein kann. Wenn Ihr es lasst.
Birgit
Text: Birgit Bauer / Manufaktur für Antworten UG
Bilder: Pixabay.com
Wichtiges und schwieriges Thema! In Österreich unterstützen die IG Pflegende Angehörige https://www. ig-pflege.at weites wichtig: Auch abseits med Themen vorsorgen. Vorsorgevollmacht/Erwachsenenvertreter - https://www.oesterreich.gv.at/themen/soziales/erwachsenenvertretung_und_vorsorgevollmacht_bisher_sachwalterschaft/4.html
AntwortenLöschenVielen Dank für die Tipps liebe Michi, ich finde das Thema auch super wichtig, aber die Menschen sind sehr zurückhaltend in der Sache. Weil man wahrscheinlich ungern über genau diese Themen spricht, sie sind unangenehm. Was auch die Resonanz auf diesen Blogpost zeigt. Der Effekt des "darüber Sprechens" und Vorsorgens kommt aber spätestens dann, wenn alles in einer Hauruck Aktion stattfinden muss. Dann ist man erst recht überfordert und bedauert, nicht früher einfach mal drauf geschaut zu haben.
LöschenLiebe Michi, ich bedanke mich für die offenen Worte.
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