Dienstag, 23. Februar 2021

Das Leben nach der Diagnose ....

Im Moment scheint es ein Trend zu sein, darüber zu berichten, wie man zur Diagnose kam. Ich lese viele teilweise gruselige Geschichten und ehrlich gesagt, manchmal frage ich mich, ob das anderen gut tut. 

So über das eigene Erleben zu berichten, das im Falle einer Diagnose auch eines ist, das wenig angenehm gewesen sein dürfte. All die Untersuchungen, Irrungen und Wirrungen, Verständnislosigkeit und mehr kann andere erschrecken und die, die vor der Diagnose stehen, ordentlich schockieren. 

Zugegeben, ich habe auch eine ganze Weile darüber berichtet, wie es mir ging. Mit der gesamten Bandbreite von der Gruppe der Assistenzärzte, die über mich Witze machten bis zu wenig emphatischen Helfern in der Radiologie bis hin zum Arzt, der mir mitteilte was los ist. 

Ich habe mich eine ganze Weile damit ausgetobt und den Horror geschildert und ich glaube, man braucht das auch weil man auch selbst in einem Prozess steckt, der hilft, das Erlebte zu verarbeiten.  

Aber .... 

... irgendwann ist es auch gut. Und es ist Wichtigeres angesagt. Leben mit MS anstatt der Grusel der Diagnose. 

Aus heutiger Sicht aber erschrecken mich die Stories, die sich über mehrere Posts etc. ziehen. Ich frage mich immer, was mit denen ist, die jetzt im Diagnoseprozess stecken? Was mag deren Eindruck sein? 

Und ich frage mich dann, ob ich verantworten will, dass sich jemand noch schlechter fühlt.  Gleichzeitig schimpfe ich mit mir selbst, weil ich mich ja auch lange mit Diagnoseschilderungen herum geplagt habe. Heute weiß ich, dass es nicht gut für mich war und ich denke, es war auch nicht gut für viele andere. Das tut mir dann immer leid. 

Sicherlich wird es die geben, die sind resilient und lassen sich erst mal wenig beeindrucken. Andere aber laufen direkt in das schwarze Loch. Was auch nicht gesund ist. Und nicht hilft, weil die Diagnose an sich schon ein heftiger Brocken ist. Da braucht man keinen Grusel on top. 

Auf der anderen Seite verstehe ich diese Stories, es geht um Aufmerksamkeit, um Bewusstsein in der Öffentlichkeit. Die Leute sollen erreicht werden, sollen mehr über MS wissen und das Bild von MS soll sich verändern. Die Frage ist nur, erlangt man mit den diagnostischen Erlebnissen wirklich eine, ich sage mal aktive und neutrale wie richtige Wahrnehmung aufgrund gut vermittelter Tatsachen in der Öffentlichkeit?  Oder ist es nur wieder die Aktivierung von #butyoudontlooksick und jede Menge Vorurteile, Falschannahmen und Mitleid? 

In den letzten Wochen habe ich lange darüber nachgedacht. Was wäre mir wichtig, würde ich die Diagnose erhalten: Grusel oder eine Botschaft, die mir ein wenig Halt gibt. Eine Botschaft, die mir nicht nur sagt, dass viele andere ähnlich schreckliche Erlebnisse hatten, sondern eine Botschaft, die mich ein Stück weit auffängt und mir sagt, dass es weitergeht. Dass da ein Leben nach der Diagnose ist. Und die Nachricht, dass dieses Leben nicht unbedingt schlecht sein muss. Dass dem nicht so ist, zeigen die Menschen, die diese Posts publizieren, aber die Grundbotschaft ist nicht die Beste. 

Deshalb gehts heute gegen den Trend. Und für das Leben nach der MS. Das es gibt. Anpacken muss man es allerdings schon, das gleich vorab. Ohne Eigeninitiative geht erst mal nichts. Was aber auch verständlich ist, es geht um das eigene Leben, das man ja weiterführen sollte. Und das so gut wie möglich. Erfüllt. Zufrieden. 

Daher einige Punkte, die ich gelernt habe: 

- Jep, es ist schlicht Scheiße, MS zu haben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Es ist der erste Eindruck, der schlecht ist, der aber den zweiten Blick erwartet. Ja sogar nötig macht, denn hinter den Kulissen sieht das anders aus. Meine Erfahrung ist und war, dass ich zurück auf mich selbst geworfen wurde und die Chance für einen Neustart bekam. Die Chance, mein Leben so zu gestalten, dass es besser zu mir passt und mir gefällt. Auch wenn ich gegen die eine oder andere Konvention, die über Generationen existiert, verstieß und damit erst einmal für viel Wirbel sorgte, es war es wert, weil ich heute zufrieden bin mit dem was da ist und es macht mich glücklich. 

- In dem Zusammenhang: Das was andere als egoistisch bezeichnen, ist für mich das Bewusstsein, dass ich entwickelt habe um zu entscheiden, was geht und was nicht, das heißt: Nein ist nicht böse. Nein ist schlicht auch die Rücksicht, die man ab und an auf sich selbst nehmen muss. Es geht nicht immer alles, aber immer noch ganz viel. 


- Klar ist auch, es nicht immer leicht mit der MS. Das Fräulein Trulla ist und bleibt eine Zicke vor dem Herrn. Aber ich bin die Chefin hier und das zählt. Ich habe über die Jahre meinen Frieden gemacht, ich kämpfe nicht, ich lebe. Denn kämpfen braucht so viel mehr Energie und nicht immer ist die richtig investiert. Wer lernt, die Balance für sich zu finden, wer sich traut, über den eigenen Schatten zu springen und sich selbst wahr zu nehmen, lenkt die Energie um. Weg von der MS, hin zu sich. 

- Und was ganz Wichtiges: Dr. Google mag ja ganz nett sein, aber der Typ hat nicht immer die Sachen parat, die man braucht um gut informiert zu sein. Wenn Ihr Euch also informiert, um eine Entscheidung zu treffen, dann bitte mit guten Infos, die auch stimmen und aktuell sind. Der Post hier könnte schon mal helfen: https://leben-arbeiten-mit-multiple-sklerose.blogspot.com/2020/11/zahlen-und-infos-zu-ms-stand-112020.html

- Ich habe viele Freunde gefunden. Wir sind füreinander da und gehen ab und an ein Stück des Weges
miteinander. Weil wir uns verstehen, es braucht keine lange Begründung. Dieses stille Verständnis, das Annehmen habe ich nirgendwo mehr gefunden als in meiner Community und dafür bin ich sehr dankbar. Und ja: Klar habe ich Menschen verloren, aber es waren die, die ich im Laufe der Zeit wahrscheinlich ohnehin verloren hätte, denn sie waren nur für eine Weile da und gingen von selbst. Andere habe ich friedlich verabschiedet. 

- Ja, es braucht Veränderung, man muss das wollen. Weil es nicht immer so einfach ist. Die Diagnose kann man so gesehen als Chance betrachten, was an sich eine Herausforderung ist, weil sie auch das eigene Umfeld betrifft und das kann schwierig werden. Aber es tut gut und man wird sich selbst bewusst. Und das ist wichtig. 

- Ich habe mit MS gelernt, dass ich mir Perfektion nicht immer geben muss. Manchmal geht auch weniger. Man lernt, die Kräfte einzuteilen und lebt bewusster. Übrigens auch was Ernährung betrifft. Ich lebe saisonal und regional und das tut mir gut. Man lernt sich selbst gut zu tun. 

- Last but not least: Ich habe gelernt auf meinen Körper zu hören. Auch wenn das. nicht immer nett ist. Weil ich oft andere Ideen habe als mein Körper, aber ich habe verstanden, dass es besser ist, Dinge zu vertagen, wenn da dieses leise Veto kommt. Das tut gut und hat mich geduldiger mit mir selbst gemacht. 

Ehrlich gesagt, es hat eine ganze Weile gebraucht, um zu verstehen, dass MS das Leben nicht beendet, sondern auch etwas Gutes bewirken kann. "Kein Schaden ohne Nutzen", sagte mir eine weise alte Dame vor Jahren und damit hat sie Recht. Wenn man sich nach der Diagnose ein bisschen im Selbstmitleid wälzt, ist das voll ok. Ich glaube, das haben wir alle. Aber es kommt der Zeitpunkt, an dem man sich selbst am Schlafittchen packen und aktiv werden muss. Damit eben das Leben lebenswert wird, sich verbessert oder so bleibt, wenn es vorher schon ok war. 

Leben mit MS ist heute immer noch schwierig für viele, keine Frage, aber es gibt mehr Forschung und Wissen über die Erkrankung, es gibt bessere und mehr Therapien und eine gute Community in der man Menschen findet, die verstehen, helfen und da sind. 

Und es gibt genügend tolle Menschen mit MS da draußen, die mit MS erfüllt leben, zufrieden sind und zeigen, dass es nicht die schlechteste Idee ist, neue Wege zu gehen. 

Hab ich auch gemacht. Was können wir also für dich da draußen tun, wenn du gerade die Diagnose erhalten hast? 

Herzliche Grüße 

Birgit 




Text: Birgit Bauer / Manufaktur für Antworten UG 

Bilder: Pixabay.com

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen